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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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zurückgelehnten Köpfen und vor dieser perversen Offenbarung entblößten Kehlen entgegennahm. Sie hakten die Ketten in Metallösen auf dem Boden des Boots ein. Das auf diese Weise befestigte Boot stieg über die Wasseroberfläche und an der rostigen Wand hinauf, die sich verschwommen in den unendlichen Nebel erhob. Plötzlich sahen sie eine Reling, dahinter ein offenes Deck, hier und da Lichtkreise, rote Zigarrenglut, die sich in die Ferne erstreckte. Das Deck schwenkte unter sie und stieg dem winzigen Boot entgegen. Als sie ausstiegen, konnten sie ringsum ähnliche Boote sehen.
    »Anrüchig« reichte bei weitem nicht aus, um den Ruf von Dramatis Personae in den Atlantischen Vierteln von London zu beschreiben, und doch war es das Adjektiv, das stets gebraucht wurde, beinahe flüsternd ausgesprochen, und mit fast bis zum Haaransatz hochgezogenen Brauen und vielsagenden Blicken über die Schultern. Hackworth hatte ziemlich schnell begriffen, daß ein Mann schon allein dadurch einen üblen Leumund bekommen konnte, daß er von der Existenz von Dramatis Personae wußte -gleichzeitig war offensichtlich, daß fast alle davon wußten. Um nicht noch mehr Schimpf und Schande auf sich zu laden, hatte er die Eintrittskarten bei einem anderen Stamm gekauft.
    Nach alledem überraschte es ihn nicht besonders, daß fast alle anderen Anwesenden ebenfalls Viktorianer waren, und zwar nicht nur Junggesellen, die über die Stränge schlugen, sondern angesehene Paare, die mit Zylindern und Schleiern an Deck spazierengingen. Fiona sprang aus dem Boot, noch ehe es richtig auf dem Deck aufgesetzt hatte, und verschwand. Sie hatte ihr Kleid neu gemustert, das Chintz-Blumendekor zugunsten einer rein weißen Farbe aufgegeben, und verschwand in der Dunkelheit, wo ihre integrale Tiara wie ein Heiligenschein leuchtete. Hackworth drehte langsam eine Runde an Deck und beobachtete, wie seine Stammesgenossen versuchten, folgendes Problem zu lösen: nahe genug an ein anderes Paar heranzukommen, um es zu erkennen, ohne so nahe heranzukommen, daß man selbst erkannt werden konnte. Von Zeit zu Zeit erkannten Paare einander gleichzeitig und mußten etwas sagen: Die Frauen kicherten verrucht, die Männer lachten aus dem Bauch heraus und bezeichneten einander als Schwerenöter, Worte, die von den Deckbeschlägen abgelenkt wurden und sich wie in Baumwollballen abgefeuerte Pfeile in den Nebel bohrten.
    Aus den Kabinen unter Deck drang verstärkte Musik; atonale Powerakkorde drangen wie seismische Erschütterungen durch das Deck. Sie befanden sich auf einem Frachter, der leer im Wasser auf und ab tanzte, überraschend beweglich für etwas so Großes.
    Hackworth war allein und vom ganzen Rest der Menschheit getrennt, ein Gefühl, mit dem er aufgewachsen war wie mit einem Jugendfreund, der nebenan wohnte. Er hatte wie durch ein Wunder Gwen gefunden und ein paar Jahre den Kontakt mit diesem alten Freund verloren, aber nun waren er und die Einsamkeit wieder vereint, zu einem kleinen Spaziergang bereit, miteinander vertraut und entspannt. Eine behelfsmäßige Bar mittschiffs hatte etwa ein Dutzend Gäste angelockt, aber Hackworth wußte, daß er sich nicht zu ihnen gesellen konnte. Er war ohne die Fähigkeit geboren worden, sich plaudernd unter eine Menschenmenge zu mischen, so wie andere ohne Hände geboren wurden.
    »Stehen Sie über allem?« fragte eine Stimme. »Oder möglicherweise daneben?« Es war ein Mann im Clownskostüm. Hackworth erkannte es als Werbeträger einer alten amerikanischen Fast-food-Kette. Aber das Kostüm sah auffällig entstellt aus, als wäre es das einzige Kleidungsstück eines Flüchtlings. Es war überall mit Flicken aus Chintzstoff, chinesischer Seide, schwarzem Nappaleder, anthrazitfarbenem Nadelstreifenstoff und Drillich von Tarnanzügen ausgebessert worden. Der Clown trug integrales Make-up – sein Gesicht leuchtete wie ein gegossenes Plastikspielzeug aus dem vorigen Jahrhundert mit einer Glühbirne im Kopf. Es war beunruhigend, ihm beim Reden zuzusehen, als würde man den animierten CAT-Scan eines schluckenden Menschen sehen.
    »Sind Sie dabei? Oder nur darin?« sagte der Clown und sah Hackworth erwartungsvoll an.
    Seit Hackworth klargeworden war, vor geraumer Zeit, daß es sich bei diesem Ding von Dramatis Personae um ein Stück mit Publikumsbeteiligung handelte, graute ihm vor diesem Augenblick: seinem ersten Stichwort. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte er mit einer gepreßten und nicht ganz festen Stimme, »dies ist nicht

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