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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sein. »Bitte«, sagte er.
    »Nun, da ist er«, sagte der Clown und zeigte mit einem geflickten Handschuh auf einen einfachen Holzstuhl direkt vor ihnen auf dem Deck. Hackworth glaubte nicht, daß der Stuhl tatsächlich da war, weil er ihn vorher nicht gesehen hatte. Aber wegen der Brille konnte er es unmöglich sagen.
    Er trat nach vorne wie ein Mann, der in einem dunklen, fremden Zimmer den Weg zur Toilette sucht, Knie leicht gebeugt, Hände ausgestreckt, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, damit er sich nicht Schienbeine oder Zehen oder etwas anderes anstieß. Der Clown hatte sich auf eine Seite gestellt und beobachtete ihn verächtlich. »Ist das etwa Ihre Art, sich in Ihre Rolle zu versetzen? Glauben Sie, daß Sie die ganze Nacht mit Ihrem wissenschaftlichen Rationalismus durchkommen können? Was, meinen Sie, wird passieren, wenn Sie zum erstenmal tatsächlich glauben, was Sie sehen?«
    Hackworth fand den Stuhl genau dort, wo das Display ihn anzeigte, aber es war kein einfacher Stuhl aus Holz; er war gepolstert und hatte Armlehnen. Wie ein Sitz im Theater, aber wenn er auf beiden Seiten tastete, konnte er keine anderen finden. Daher klappte er den Sitz herunter und nahm Platz.
    »Das hier werden Sie brauchen«, sagte der Clown und drückte Hackworth einen röhrenförmigen Gegenstand in die Hand. Hackworth konnte ihn gerade als eine Art Fackel identifizieren, als direkt unter ihm etwas Lautes und Heftiges geschah. Seine Füße, die auf dem Deck gestanden hatten, schwebten jetzt in der Luft. Tatsächlich schwebte er ganz und gar. Eine Falltür hatte sich unter ihm aufgetan, und er befand sich im freien Fall. »Genießen Sie die Vorstellung«, sagte der Clown, klopfte sich an den Hut und sah durch eine Öffnung zu ihm herab, die zunehmend kleiner wurde. »Und während Sie mit neun Komma acht Metern pro Quadratsekunde Richtung Erdmittelpunkt beschleunigen, lösen Sie mir folgendes Rätsel: Wir können Geräusche fälschen, wir können Bilder fälschen, sogar den Wind, der über Ihr Gesicht streicht, aber wie fälschen wir das Gefühl des freien Falls?«
    Pseudopodien waren aus dem Schaumstoffpolster des Stuhls gewachsen und hatten sich um Hackworths Taille und Oberschenkel geschlungen. Ein Glück, denn er drehte sich langsam rückwärts und fiel wenig später mit dem Gesicht nach unten, während er durch dichte, amorphe Lichtwolken stürzte: eine Sammlung alter Lüster, die Dramatis Personae aus zum Abriß bestimmten Gebäuden gerettet hatte. Der Clown hatte recht: Hackworth befand sich eindeutig im freien Fall, ein Gefühl, das nicht mit Hilfe einer Brille vorgetäuscht werden konnte. Wenn er seinen Augen und Ohren trauen durfte, stürzte er dem Boden des großen Theaters entgegen, das er vorhin gesehen hatte. Aber es war nicht mit ordentlichen Sitzreihen versehen so wie andere Theater. Die Sitze waren zwar da, aber willkürlich verstreut. Und einige bewegten sich.
    Der Boden sauste ihm weiter entgegen, bis er es wirklich mit der Angst zu tun bekam und schrie. Dann spürte er die Schwerkraft wieder, als eine Kraft ihn allmählich abbremste. Der Stuhl wirbelte herum, so daß Hackworth zu den unregelmäßigen Konstellationen der Leuchter hinaufschaute, und die Beschleunigung schnellte um mehrere g in die Höhe. Dann wieder auf normal. Der Stuhl drehte sich, so daß er wieder aufrecht stand, und das Phänomenoskop erstrahlte in grellem, blendendem Weiß. Die Ohrstöpsel pumpten statisches Rauschen in Hackworths Schädel; doch als es nachließ, stellte er fest, daß es sich eigentlich um Applaus handelte.
    Hackworth konnte nichts sehen, bis er sich an der Schnittstelle zu schaffen machte und auf eine mehr schematische Ansicht des Theaters umschaltete. Dann stellte er fest, daß der Saal etwa zur Hälfte mit Theaterbesuchern besetzt war, die sich alle unabhängig auf ihren irgendwie motorisierten Stühlen bewegten, und daß ihm mehrere davon ihre Fackeln entgegenstreckten, was das grelle Licht erklärte. Er befand sich mitten auf der Bühne, die Hauptattraktion. Er fragte sich, ob erwartet wurde, daß er etwas sagte. Ein Text leuchtete in seiner Brille auf:
Danke schön, meine Damen und Herren, daß ich reinschneien durfte. Wir haben heute abend eine tolle Vorstellung für Sie vorbereitet...
    Hackworth fragte sich, ob er irgendwie verpflichtet war, diese Zeilen zu rezitieren. Doch die Fackeln wurden bald von ihm abgewendet, als weitere Besucher aus der Astralebene der Lüster herabregneten. Während Hackworth

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