Diamond Age - Die Grenzwelt
schmalen Laufsteg, als sie zur Oberfläche kam wie ein emporsteigendes Atlantis. Das Publikum bemerkte es und leuchtete mit den Fackeln über die Oberfläche, so daß einige dunkle Flecken in dem Kreuzfeuer sichtbar wurden: die Köpfe von einem runden Dutzend Schauspielern, die langsam aus dem Wasser aufstiegen. Sie fingen an, unisono zu sprechen, und Hackworth wurde klar, daß sie der Chor der Irren waren, den er zuvor gesehen hatte.
»Laß einen rüberwachsen, Nick«, sagte eine Frauenstimme hinter ihm.
»Hast sie eingewickelt, was?« sagte der Barkeeper.
»Memmen.«
Hackworth drehte sich um und sah die junge Frau im Teufelskostüm, die als Reiseleiterin der Heartlander fungierte. Sie war sehr klein, trug einen langen schwarzen Rock mit einem Schlitz bis zur Hüfte, und sie hatte wunderbares Haar, dicht und schwarz und glänzend. Sie trug ein Glas Weizenbier zum Tresen, fegte mit einer Geste, die Hackworth hoffnungslos bezaubernd fand, geziert ihren Teufelsschwanz aus dem Weg und setzte sich. Dann stieß sie einen explosionsartigen Seufzer aus und legte einen Moment den Kopf auf die Arme, während sich ihre blinkenden roten Hörner in den gekrümmten Fensterscheiben spiegelten wie die Heckleuchten eines Ganzspurfahrzeugs. Hackworth verschränkte die Finger um sein Glas herum und roch ihr Parfüm. Unten war der Chor außer Kontrolle geraten und versuchte vergeblich, eine ziemlich ehrgeizige Tanzeinlage a la Busby Berkeley abzuziehen. Sie besaßen eine geradezu unheimliche Eigenschaft, sich im Einklang zu bewegen -mußte etwas mit den 'siten in ihren Gehirnen zu tun haben -, aber ihre Körper waren ungelenk, schwach und schlecht koordiniert. Was sie machten, machten sie mit unerschütterlicher Überzeugung, und deshalb war es trotzdem gut.
»Haben Sie es Ihnen abgekauft?« fragte Hackworth.
»Pardon?« sagte die Frau und sah erschrocken wie ein Vogel auf, als hätte sie gar nicht bemerkt gehabt, daß Hackworth da war.
»Glauben diese Heartlander wirklich die Geschichte von dem betrunkenen Piloten ?«
»Oh. Wen juckt's?« sagte die Frau.
Hackworth lachte und freute sich, daß ein Mitglied von Dramatis Personae ihm diese Vertraulichkeit entgegenbrachte.
»Aber eigentlich haben Sie das Thema verfehlt, oder nicht?« sagte die Frau mit leiserer Stimme und wurde ein wenig philosophisch. Sie drückte eine Zitronenscheibe über ihrem Weizenbier aus und trank einen Schluck. »Glaube ist kein Binärzustand, jedenfalls hier nicht. Glaubt jemand etwas zu hundert Prozent? Glauben Sie alles, was Sie durch diese Brille sehen?«
»Nein«, sagte Hackworth, »im Augenblick glaube ich nur, daß meine Beine naß sind, dieses Stout gut schmeckt und ich Ihr Parfüm mag.«
Sie sah ein bißchen überrascht aus, keineswegs unangenehm, aber so leicht zu becircen war sie nicht. »Warum sind Sie hier? Zu welcher Vorstellung sind Sie gekommen?«
»Was meinen Sie damit? Ich bin gekommen, um die hier zu sehen.«
»Aber ›die hier‹ gibt es nicht. Es sind eine Vielzahl von Vorstellungen. Alle miteinander verflochten.« Sie stellte ihr Bier ab und leitete Phase eins des So-sieht-das-aus-Manövers ein. »Welche Vorstellung Sie sehen, hängt davon ab, welche Aufzeichnung Sie betrachten.«
»Ich scheine keine Kontrolle darüber zu haben, was ich sehe.«
»Aha, dann sind Sie Darsteller.«
»Bisher bin ich mir wie ein tolpatschiger Slapstickkomiker vorgekommen.«
»Tolpatschiger Slapstick? Ist das nicht doppelt gemoppelt?«
Es war nicht so witzig, aber sie sagte es lustig, daher kicherte Hackworth höflich.
»Sieht so aus, als wären Sie zum Darsteller ausgewählt worden.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Normalerweise gebe ich keines unserer Berufsgeheimnisse preis«, fuhr die Frau mit leiserer Stimme fort, »aber wenn jemand als Darsteller ausgewählt wird, dann kommt er für gewöhnlich aus einem anderen Grund als nur zur passiven Unterhaltung hierher.«
Hackworth stotterte und suchte nach Worten. »Kommt das... wird das gemacht?«
»O ja!« sagte die Frau. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und setzte sich auf den direkt neben Hackworth. »Theater besteht nicht nur darin, daß ein paar Leute auf der Bühne herumkaspern, wobei ihnen eine Herde Schafe zuschaut. Ich meine, manchmal ist es so. Aber es kann viel mehr sein - in Wirklichkeit kann es jede Form der Interaktion zwischen Menschen und anderen Menschen sein, oder zwischen Menschen und Informationen.« Die Frau hatte sich in einen ziemlichen Eifer hineingeredet und wirkte völlig
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