Diamond Age - Die Grenzwelt
und einen anderen öffnete. Es war ein dynamisches Labyrinth.
Er fand einen rostigen Bolzen auf dem Boden, hob ihn auf und warf ihn gegen eine Wand. Der Bolzen prallte nicht ab, sondern ging hindurch und fiel auf der anderen Seite polternd zu Boden. Demnach existierten die Wände lediglich als Phantasiegebilde in der Brille. Das Labyrinth war aus Informationen konstruiert. Um ihm zu entkommen, würde er sich als Hacker erweisen müssen.
Er setzte sich auf den Boden. Nick, der Barkeeper, der ungehindert durch die Wände gehen konnte, kam mit einem frischen Glas Stout zu ihm, das er ihm zusammen mit einer Schüssel gesalzener Erdnüsse gab. Im Lauf des Abends passierten andere Leute diesen Abschnitt, sie tanzten oder sangen oder duellierten oder stritten oder liebten sich. Das alles hatte nicht speziell etwas mit Hackworths Suche zu tun, und die Leute selbst schienen auch nichts miteinander zu tun zu haben. Offenbar war Hackworths Suche (wie ihm das Teufels-Weib gesagt hatte) nur eine von mehreren konkurrierenden Geschichten, die heute abend auf derselben Bühne gespielt wurden.
Aber was hatte das alles mit dem Leben von John Hackworth zu tun? Und welche Rolle spielte Fiona darin?
Als Hackworth an Fiona dachte, glitt ein Paneel vor ihm zur Seite und gab den Blick auf einen mehrere Meter langen Korridor frei. In den nächsten zwei Stunden fiel ihm das mehrmals auf: Er hatte eine Idee, und daraufhin glitt eine Wand beiseite.
Auf diese Weise bewegte er sich abschnittsweise durch das Labyrinth, während sein Geist von einem Gedanken zum nächsten hüpfte. Der Boden neigte sich eindeutig nach unten, was ihn offensichtlich irgendwann unter die Wasserlinie bringen würde; tatsächlich spürte er bereits heftiges Trommeln, das durch die Deckplatten drang; es hätte das Vibrieren gewaltiger Maschinen sein können, aber dieses Schiff machte, soweit er wußte, keine Fahrt. Er roch Meerwasser vor sich, sah verschwommene Lichter unter der Oberfläche, die von Wellen überspült wurden, und wußte, daß sich in den gefluteten Ballasttanks dieses Schiffes ein Netz unterseeischer Tunnels befand und sich in diesen Tunnels Trommler aufhielten. Es wäre denkbar, daß diese ganze Vorstellung lediglich ein im Geiste der Trommler inszeniertes Phantasiegebilde war. Und wahrscheinlich nicht einmal das Hauptereignis; möglicherweise handelte es sich lediglich um eine Manifestation tiefergehender Vorgänge, die sich im kollektiven Bewußtsein der Trommler abspielten.
Ein Wandabschnitt glitt beiseite und zeigte ihm freien Durchgang zum Wasser. Hackworth kauerte einige Augenblicke am Ufer und lauschte den Trommeln, dann richtete er sich auf und lockerte seine Krawatte.
Ihm war schrecklich heiß, und er schwitzte, und grelles Licht schien ihm in die Augen, was sich alles nicht mit der Tatsache vereinbaren ließ, daß er sich unter Wasser befand. Er erwachte und sah einen strahlend blauen Himmel über sich, strich über das Gesicht und stellte fest, daß die Brille nicht mehr da war. Fiona saß in ihrem weißen Kleid neben ihm und betrachtete ihn mit einem wehmütigen Lächeln. Der Boden schlug gegen Hackworths Pobacken, was offenbar schon seit geraumer Zeit so sein mußte, da die knochigen Stellen seiner Kehrseite sich aufgeschürft und wund anfühlten. Er stellte fest, daß sie sich auf dem Floß befanden und zum Londoner Hafen zurückfuhren; daß er nackt war und Fiona ihn mit einer Plastikplane zugedeckt hatte, um seine Haut vor der Sonne zu schützen. Ein paar andere Theaterbesucher saßen aneinandergelehnt und völlig passiv in der Nähe verstreut, wie Flüchtlinge oder Menschen, die gerade den tollsten Geschlechtsverkehr ihres Lebens hatten, oder Leute mit einem schrecklichen Kater.
»Du warst ein großer Erfolg«, sagte Fiona. Und plötzlich erinnerte sich Hackworth, wie er nackt und tropfnaß über die Hebebühne geführt wurde, vom donnernden Applaus der stehenden Zuschauer begleitet.
»Die Suche ist vorbei«, stieß er hervor. »Wir gehen nach Shanghai.«
»Du gehst nach Shanghai«, sagte Fiona. »Ich werde mich am Dock von dir verabschieden. Dann kehre ich zurück.« Sie nickte mit dem Kopf über das Heck.
»Zurück zum Schiff?«
»Ich war ein noch größerer Erfolg als du«, sagte sie. »Ich habe meine Berufung entdeckt, Vater. Ich habe ein Angebot angenommen, Mitglied von Dramatis Personae zu werden.«
Carl Hollywood betätigt sich als Hacker.
Carl Hollywood lehnte sich zum erstenmal seit vielen Stunden an die
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