Diamond Age - Die Grenzwelt
darunter einen Hoplitenanzug sehen konnte. Dr. X befand sich im Krieg; er hatte den Schutzwall von Suzhou verlassen und mußte mit einem Angriff rechnen. Er trank grünen Tee, im hiesigen Stil gebraut, bei dem große Blätter in einem Krug mit heißem Wasser schwammen, aus einem McDonald's-Jumbobecher. Hackworth nahm den Hut ab und verbeugte sich nach Art der Victorianer, was unter den gegebenen Umständen angemessen war. Dr. X erwiderte die Verbeugung, und als er den Kopf nach vorne neigte, konnte Hackworth den Knopf an seiner Mandarinmütze sehen. Der Knopf war rot, die Farbe der höchsten Ränge, bestand aber aus Koralle, was Dr. X als Angehörigen des zweiten Ranges auswies. Mit einem Knopf aus Rubin hätte er dem höchsten Rang angehört. In westlichen Begriffen war Dr. X damit einem unbedeutenderen Kabinettsminister oder einem Drei-Sterne-General ebenbürtig. Hackworth vermutete, daß dies der höchste Rang für einen Mandarin war, der noch mit Barbaren verkehren durfte.
Hackworth nahm gegenüber Dr. X Platz. Eine junge Frau trippelte mit Seidenpantoffeln aus der Küche und gab Hackworth einen eigenen Krug grünen Tee. Als er sah, wie sie davonstöckelte, registrierte Hackworth, nur gelinde betroffen, daß ihre Füße nicht länger als zehn Zentimeter waren. Heutzutage gab es wahrscheinlich bessere Methoden, das zu bewerkstelligen, möglicherweise Regulierung des Wachstums der Fußwurzelknochen in der Pubertät. Wahrscheinlich tat es nicht einmal weh.
Als ihm das klar wurde, sah Hackworth auch zum erstenmal ein, daß er vor zehn Jahren richtig gehandelt hatte.
Dr. X betrachtete ihn, und es war durchaus vorstellbar, daß er seine Gedanken las. Das schien ihn in eine nachdenkliche Stimmung zu versetzen. Er sagte eine ganze Weile nichts, sondern sah nur zum Fenster hinaus und nippte ab und zu an seinem Tee. Hackworth, der einen langen Ritt hinter sich hatte, war das ganz recht.
»Haben Sie etwas aus Ihrer zehnjährigen Strafe gelernt?« sagte Dr. X schließlich.
»Es kommt mir so vor. Aber ich habe Mühe, es an Land zu ziehen«, sagte Hackworth.
Das war ein bißchen zu idiomatisch für Dr. X. Zur Erklärung zog Hackworth eine zehn Jahre alte Visitenkarte mit dem dynamischen Siegel von Dr. X heraus. Als der alte Fischer den Drachen aus dem Wasser zog, kapierte Dr. X plötzlich und grinste anerkennend. Damit zeigte er eine Menge Gefühl - falls es aufrichtig war -, aber Alter und Krieg hatten ihn tollkühn gemacht.
»Haben Sie den Alchimisten gefunden?« sagte Dr. X.
»Ja«, sagte Hackworth. »Ich bin der Alchimist.«
»Wann haben Sie das erfahren?«
»Erst vor kurzem«, sagte Hackworth. »Aber dann begriff ich alles auf einen Schlag - ich habe es an Land gezogen«, sagte er und stellte pantomimisch dar, wie er einen Fisch aus dem Wasser herausziehen würde. »Das Himmlische Königreich lag weit abgeschlagen hinter Nippon und Atlantis, in Nanotech-Maßstäben. Die Fäuste hätten jederzeit die Feederleitungen der Barbaren zerstören können, aber das hätte die Bauern nur in Armut gestürzt und in den Leuten den Wunsch nach ausländischen Waren geweckt. Die Entscheidung wurde getroffen, die barbarischen Stämme zu überflügeln und die Saat-Technologie zu entwickeln. Zuerst haben Sie das Projekt mit Hilfe von zweitrangigen Phylen wie Israel, Armenien und Großserbien in Angriff genommen, aber die erwiesen sich als unzuverlässig. Immer wieder wurden Ihre sorgsam kultivierten Netze von der Protokollwahrung zerschlagen.
Aber während dieser Fehlversuche haben Sie zum erstenmal mit CryptNet Verbindung aufgenommen, die Sie zweifellos als eine von vielen Triaden betrachtet haben – eine verachtenswerte Bande von Verschwörern. Aber CryptNet stand mit etwas weitaus Tieferem und Interessanterem im Bunde - mit der Gesellschaft der Trommler. Mit seiner beschränkten und oberflächlichen westlichen Perspektive begriff CryptNet die Macht des kollektiven Bewußtseins der Trommler gar nicht. Aber Sie haben es sofort erfaßt.
Um das Saat-Projekt anzukurbeln, brauchten Sie lediglich den rationalen, analytischen Verstand eines Nanotechnologieingenieurs. Ich paßte perfekt in Ihr Anforderungsprofil. Sie haben mich in die Gesellschaft der Trommler gesteckt wie einen Samen in fruchtbaren Boden, und mein Wissen breitete sich durch sie aus und durchdrang ihren kollektiven Geist - wie ihre Gedanken sich in meinem Unterbewußtsein ausbreiteten. Sie wurden so etwas wie eine Verlängerung meines eigenen Gehirns. Jahrelang
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