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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dem Westen als Brückenköpfe des nachkommunistischen Baubooms benutzt hatten, der den großen Wohlstand der Küstenrepublik begründete. Er ritt an Nachtclubs von der Größe von Fußballstadien vorbei; an Jaialai-Plätzen, wo fassungslose Flüchtlinge die Einsätze der Wettenden bestaunten; Nebenstraßen mit Boutiquen, eine Straße für erlesene Waren aus Krokodilleder, eine für Pelze, eine für Leder; an einem Nanotechbezirk mit winzigen Geschäften, die Ingenieursarbeiten nach Maß erledigten; Obst und Gemüseständen; einer Einbahnstraße, wo Pendler Antiquitäten in kleinen Rollwägelchen verkauften, wobei sich einer auf kleine Zinnoberbüchsen und ein anderer auf maoistischen Kitsch spezialisiert hatte. Jedesmal, wenn die Menge ausdünnte und Hackworth dachte, daß er sich dem Stadtrand nähern mußte, kam er in ein anderes Viertel mit dreistöckigen Miniaturkaufhäusern, und alles fing von vorne an.
    Aber im Lauf des Tages erreichte er den Stadtrand wahrhaftig, und er ritt dennoch weiter Richtung Westen, bis deutlich wurde, daß er ein Verrückter war und die Leute auf den Straßen ihn ehrfürchtig ansahen und ihm aus dem Weg gingen. Fahrräder und Fußgänger wurden immer seltener und wichen schwererem und schnellerem militärischen Verkehr. Hackworth gefiel es nicht, auf der Böschung von Straßen zu reiten, daher wies er Kidnapper an, einen Umweg nach Suzhou einzuschlagen, über Nebenstraßen. Er befand sich im flachen Gebiet des Jangtsedeltas, nur Zentimeter über dem Meeresspiegel, wo Kanäle für den Verkehr, Bewässerung und Drainagen zahlreicher waren als Straßen. Die Kanäle durchzogen den schwarzen, stinkenden Boden wie Blutgefäße, die sich in Hirngewebe verzweigten. Die Ebene wurde hin und wieder von Grabhügeln unterbrochen, in denen, gerade oberhalb der Ebene gewöhnlicher Fluten, die Gebeine eines Vorfahren ruhten. Weiter entfernt im Westen ragten hohe Berge mit schwarzer Vegetation aus den Reisfeldern empor. Die Kontrollpunkte der Küstenrepublik an den Straßenkreuzungen sahen grau und verschwommen wie Schimmelpilzklumpen von Hausgröße aus, so dicht waren die fraktalen Verteidigungsgitter, und wenn Hackworth durch die Wolke makro- und mikroskopischer Aerostats schaute, konnte er kaum die Hopliten in der Mitte erkennen, von deren Rücken Hitzewellen aufstiegen, die die Luftsuppe in Wallung brachte. Sie ließen ihn ohne Zwischenfälle passieren. Hackworth rechnete damit, daß er weitere Kontrollpunkte sehen würde, während er sich dem von den Fäusten kontrollierten Gebiet näherte, aber der erste war zugleich auch der letzte; die Küstenrepublik hatte nicht die Reserven für eine Tiefenverteidigung und brachte nur eine eindimensionale Postenkette zustande.
    Eine Meile nach dem Kontrollpunkt, an einer weiteren kleinen Kreuzung, fand Hackworth zwei behelfsmäßige Kruzifixe aus dem Holz frisch gefällter Maulbeerbäume, an deren Zweigen noch grüne Blätter hingen. Zwei junge weiße Männer waren mit grauen Plastikbändern an diese Kruzifixe gefesselt worden; sie wiesen an zahlreichen Stellen Brandwunden auf, und außerdem hatte man sie ausgeweidet. Aus ihren Frisuren und den feierlichen schwarzen Krawatten, die man ironischerweise um ihre Hälse hatte hängen lassen, schloß Hackworth, daß es sich um Mormonen handeln mußte. Einem hing ein langes Stück Darm vom Bauch auf den Boden, wo ein abgemagertes Schwein störrisch daran zerrte.
    Viel mehr Tote sah Hackworth nicht, aber er roch sie überall in der heißen, feuchten Luft. Er glaubte, daß er ein Netz von Nano-techkordons zur Verteidigung sehen konnte, bis ihm klar wurde, daß es sich um ein natürliches Phänomen handelte: Über jeder Wasserstraße verharrte ein schwarzer Schleier fetter, träger Fliegen. Da wußte er, wenn er ein bißchen links oder rechts am Zügel ziehen und Kidnapper zum Ufer der Kanäle führen würde, würde er feststellen, daß aufgedunsene Leichen darin schwammen.
    Zehn Minuten nachdem er den Kontrollpunkt der Küstenrepublik hinter sich gelassen hatte, ritt er durch ein Lager der Fäuste. Da er weder nach rechts noch nach links schaute, konnte er die Größe nicht abschätzen; sie hatten ein ganzes Dorf mit flachen Backstein-und Stuckgebäuden übernommen. Eine lange, gerade Rußspur auf dem Boden markierte die Lage einer niedergebrannten Feederleitung, und als er sie überquerte, stellte Hackworth sich vor, daß sie einen Meridian darstellte, den ein astraler Kartograph in die lebende Erde eingraviert

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