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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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keine Anarchie ausbricht. Ihr habt Angst davor, eurem Volk die Saat zu geben, weil sie damit Waffen, Viren und Drogen eigener Fabrikation herstellen und die Ordnung zerstören können. Ihr haltet die Ordnung durch Kontrolle der Feeder aufrecht. Aber wir im Himmlischen Königreich sind diszipliniert, wir respektieren die Autorität, wir haben Ordnung in unserem Geist, und daher ist die Familie geordnet, das Dorf geordnet, der Staat geordnet. In unseren Händen wäre die Saat unschädlich.«
    »Warum brauchen Sie sie?« fragte Hackworth.
    »Wir müssen Technologie haben, wenn wir überleben wollen«, sagte Dr. X, »aber wir brauchen sie mit unserem eigenen
ti.«
    Im ersten Augenblick dachte Hackworth, Dr. X würde auf das Getränk anspielen. Aber der Doktor malte mit kräftigen und anmutigen Handbewegungen Schriftzeichen auf die Tischplatte, wobei sein Brokatärmel raschelnd über die Plastikoberfläche strich.
»Jong
ist die äußere Manifestation von etwas.
Ti
ist die zugrundeliegende Essenz. Technologie ist ein
jong
mit einem speziellen
ti,
das« - hier verhaspelte sich der Doktor und biß sich erkennbar auf die Zunge, um keinen geringschätzigen Ausdruck wie
Barbar
oder
Gwailo
zu benutzen - »das westlich ist, und vollkommen fremd für uns. Seit Jahrhunderten, seit der Zeit der Opiumkriege, versuchen wir, das
jong
der Technologie zu absorbieren, ohne das westliche
ti
zu importieren. Aber es war unmöglich. So, wie unsere Vorfahren dem Westen nicht die Tür öffnen konnten, ohne das Gift des Opiums zu akzeptieren, konnten wir unser Leben nicht der westlichen Technologie öffnen, ohne die Vorstellungen des Westens aufzunehmen, die unsere Gesellschaft wie eine Seuche befallen haben. Die Folge war jahrhundertelanges Chaos. Wir bitten Sie, das zu beenden, indem Sie uns die Saat geben.«
    »Ich verstehe nicht, wie die Saat Ihnen helfen kann.«
    »Die Saat ist eine Technologie, die im chinesischen
ti
verwurzelt ist. Wir leben seit fünftausend Jahren nach der Saat«, sagte Dr. X. Er winkte mit der Hand zum Fenster. »Das da waren Reisfelder, bevor Parkplätze daraus wurden. Reis bildete die Grundlage unserer Gesellschaft. Bauern pflanzten die Saat und genossen höchstes Ansehen in der Konfuzianischen Hierarchie. Wie der Meister sagte ›Mögen der Produzenten viele und der Konsumenten wenige sein.« Als die Feeder von Atlantis und Nippon kamen, mußten wir nichts mehr anpflanzen, weil der Reis nun aus dem MaterieCompiler kam. Das war der Untergang unserer Gesellschaft. Als unsere Gesellschaft auf dem Pflanzen basierte, konnte man aufrichtig sagen, wie es der Meister getan hat: ›Tugend ist die Wurzel, Wohlstand das Resultat.« Aber unter dem westlichen
ti
kommt Wohlstand nicht von Tugend, sondern von Schläue. Aus diesem Grund wurde die Eltern-Kind-Beziehung zerstört. Chaos«, sagte Dr. X bedauernd, schaute von seinem Tee auf und nickte zum Fenster. »Parkplätze und Chaos.«
    Hackworth schwieg eine ganze Minute. Wieder gingen ihm Bilder durch den Kopf, aber diesmal keine flüchtige Halluzination, sondern die ausgewachsene Vision eines vom Joch des ausländischen Feeder befreiten Chinas. Das hatte er schon einmal gesehen, hatte vielleicht sogar mitgeholfen, es zu schaffen. Die Vision zeigte ihm etwas, das kein
Gwailo
jemals zu sehen bekommen würde: das Himmlische Königreich im bevorstehenden Zeitalter der Saat. Bauern bestellten ihre Felder und Reisterrassen, und selbst in Zeiten von Dürre und Flut brachte die Erde reiche Ernte hervor: selbstverständlich Nahrungsmittel, aber auch viele unbekannte Pflanzen und Früchte, aus denen man Medizin machen konnte; Bambus, der hundertmal stärker war als sein natürlicher Vetter; Bäume, die synthetischen Kautschuk und sauberen, sicheren Treibstoff hervorbrachten. In geordneten Prozessionen brachten sonnengebräunte Bauern ihre Produkte zu großen Märkten in sauberen Städten, frei von Cholera und Hader, wo alle jungen Leute höflich waren und pflichtbewußte Lehrmeister und alle älteren Menschen mit Respekt behandelt und versorgt wurden. Es war eine raktive Simulation so groß wie ganz China, und Hackworth hätte ganz darin aufgehen können, was er möglicherweise auch wer weiß wie lange tat. Aber schließlich machte er die Augen zu, blinzelte die Vision fort und trank etwas Tee, um wieder zu Vernunft zu kommen.
    »Ihre Argumente entbehren nicht einer gewissen Stichhaltigkeit«, sagte Hackworth. »Danke, daß Sie mir geholfen haben, die Angelegenheit in einem anderen

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