Diamond Age - Die Grenzwelt
gestellt hatte, durch Nuancen vermittelte. Darüber hinaus war der Aufbau der Schrift genau richtig, ein perfektes Gleichgewicht von großen und kleinen Schriftzeichen, die einfach so auf der Seite schwebten, als wollten sie ganze Heerscharen zukünftiger Studenten zu einer Analyse herausfordern.
Richter Fang wußte, daß Dr. X Legionen von Kriminellen kontrollierte, deren Spektrum von kleinen Ganoven bis zu internationalen Verbrecherbossen reichte; daß die Hälfte aller Beamten der Küstenrepublik in Shanghai auf seiner Gehaltsliste stand; daß er innerhalb der Grenzen des Himmlischen Königreichs eine Gestalt von nicht unerheblicher Bedeutung war, wahrscheinlich ein blauknöpfiger Mandarin des dritten oder vierten Ranges; daß seine Geschäftsverbindungen sich über fast alle Kontinente und Phylen der großen, weiten Welt erstreckten und daß er unermeßliche Reichtümer angehäuft hatte. Das alles freilich verblaßte im Vergleich mit der Zurschaustellung von Macht, wie sie diese Schriftrolle darstellte.
Ich kann jederzeit zum Pinsel greifen,
sagte Dr. X damit,
und ein Kunstwerk erschaffen, das neben den kostbarsten kalligraphischen Werken der Ming-Dynastie an der Wand hängen könnte.
Indem er Richter Fang diese Schriftrolle schickte, beanspruchte Dr. X das Erbe für sich, das Richter Fang am meisten verehrte. Es war, als hätte er einen Brief vom Meister höchstpersönlich bekommen. Der Doktor wies de facto auf seine Stellung hin. Und auch wenn Dr. X nominell einer anderen Phyle angehörte – dem Himmlischen Königreich – und hier, in der Küstenrepublik, nichts weiter als ein Krimineller war, konnte Richter Fang diese derart niedergeschriebene Nachricht von ihm unmöglich ignorieren, ohne allem abzuschwören, das er am meisten respektierte - die Prinzipien, nach denen er sein eigenes Leben neu gestaltet hatte, nachdem ihn seine Laufbahn als Ganove in Lower Manhattan in eine Sackgasse geführt hatte. Es war, als hätten ihm seine eigenen Vorfahren eine Aufforderung durch die Jahrhunderte zukommen lassen.
Er bewunderte die Kalligraphie noch ein paar Minuten. Dann rollte er das Papier mit großer Sorgfalt zusammen, schloß es in einer Schublade ein und kehrte ins Verhörzimmer zurück.
»Ich habe eine Einladung zum Dinner auf dem Boot von Dr. X bekommen«, sagte er. »Bringen Sie den Gefangenen in die Untersuchungszelle zurück. Für heute sind wir fertig.«
Eine häusliche Szene; Nell besucht das Spielzimmer;
ungebührliches Verhalten der anderen Kinder;
die Fibel stellt neue Fähigkeiten unter Beweis;
Dinosaurier erzählt eine Geschichte.
Morgens zog Mom ihre Zimmermädchenuniform an und ging zur Arbeit, und Tad wachte einige Zeit später auf und belegte das Sofa vor dem großen Wohnzimmermediatron mit Beschlag. Harv drückte sich an den Wänden des Apartments entlang und suchte nach Frühstück, von dem er einen Teil auch Nell mitbrachte. Dann verließ Harv das Apartment und kam erst zurück, wenn Tad sich verzogen hatte, für gewöhnlich am Spätnachmittag, um mit seinen Kumpels herumzuhängen. Mom kam mit einer Plastiktüte voll Salat nach Hause, die sie von der Arbeit mitbrachte, und mit einer kleinen Spritze; wenn sie von dem Salat gekostet hatte, drückte sie normalerweise die Spritze in den Arm und sah sich den Rest des Abends alte Passive im Mediatron an. Harv kam und ging mit seinen Freunden. Normalerweise war er nicht da, wenn Nell beschloß, schlafen zu gehen, aber wenn sie aufwachte, schon. Tad konnte zu jeder erdenklichen Nachtzeit heimkommen und wurde wütend, wenn Mom nicht wach war.
Am Samstag waren Mom und Tad beide gleichzeitig zu Hause, lagen zusammen auf der Couch und umarmten einander; Tad spielte ein albernes Spiel mit Mom, bei dem Mom quiekte und zappelte. Nell bat Mom immer wieder, ihr eine Geschichte aus ihrem magischen Buch vorzulesen, aber Tad stieß sie weg und drohte ihr eine Tracht Prügel an, und schließlich sagte Mom: »Geh mir nicht auf den Wecker, Nell!« und schubste sie zur Tür hinaus und sagte ihr, daß sie ein paar Stunden in das Spielzimmer gehen sollte.
Nell verirrte sich in den Fluren und fing an zu weinen; aber ihr Buch erzählte ihr eine Geschichte von Prinzessin Nell, die sich in den endlosen Korridoren des Dunklen Schlosses verirrte, und wie sie durch ihre Klugheit wieder den Weg ins Freie fand, und danach fühlte Nell sich sicher – als könnte sie sich nie wirklich verirren, wenn sie ihr Zauberbuch bei sich hatte. Schließlich fand Nell das
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