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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dem es sich, wie Richter Fang begriffen hatte, nicht um ein verschmitztes Grinsen handelte, sondern mehr um einen Ausdruck unbeteiligter Versonnenheit. Kaum hatte Richter Fang die Augen erwähnt, unterbrach der Gefangene den Blickkontakt, das Lächeln verschwand, und er wurde immer nachdenklicher, bis er am Ende tatsächlich zustimmend nickte.
    Er nickte noch etwa eine Minute so weiter und sah dabei starr zu Boden. Dann strahlte er und sah zu dem Richter auf. »Bevor ich Ihnen meine Antwort gebe«, sagte er, »foltern Sie mich.«
    Richter Fang gelang es mit einiger Anstrengung, die Fassung nicht zu verlieren. PhyrePhox drehte den Kopf so weit, bis er Miss Pao am Rand seines Gesichtsfelds sehen konnte. »Los doch«, sagte der Gefangene ermutigend, »geben Sie mir einen Stoß.«
    Richter Fang zuckte die Achseln und nickte Miss Pao zu, die ihren Pinsel nahm und hastig ein paar Schriftzeichen auf das Media-tronpapier warf, das ausgebreitet vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Als sie sich dem Ende der Inschrift näherte, zauderte sie und sah zunächst den Richter an und schließlich, als sie den letzten Pinselstrich ausführte, PhyrePhox.
    An diesem Punkt hätte PhyrePhox einen Schrei aus tiefster Seele ausstoßen, sich in seinen Fesseln aufbäumen, an beiden Enden entleeren und entweder (bei schwächlicher Konstitution) in einen Schock verfallen oder aber (bei kräftiger Natur) um Gnade winseln müssen. Statt dessen machte er die Augen zu, als würde er konzentriert über etwas nachdenken, spannte einige Augenblicke lang jeden Muskel in seinem Körper an und entspannte sich wieder, während er tief und bewußt atmete. Er schlug die Augen auf und sah Richter Fang an. »Wie finden Sie das?« sagte der Gefangene. »Möchten Sie noch eine Demonstration?«
    »Ich denke, ich habe das Prinzip verstanden«, sagte Richter Fang. »Vermutlich handelt es sich um einen Ihrer ausgeklügelten CryptNet-Tricks. Im Gehirn eingebettete Nanositen, die die Wechselwirkung mit dem peripheren Nervensystem regeln. Es wäre logisch, daß Sie über dauerhaft installierte telästhetische Systeme verfügen. Und ein System, das Ihren Nerven vorgaukelt, sie wären anderswo, kann Ihnen ebenso vorgaukeln, daß Sie keine Schmerzen empfinden.«
    »Was man installieren kann, läßt sich auch wieder entfernen«, merkte Miss Pao an.
    »Das wird nicht notwendig sein«, sagte Richter Fang und nickte Chang zu. Chang stellte sich vor den Gefangenen und zückte ein Kurzschwert. »Wir fangen mit den Fingern an und machen von da an weiter.«
    »Sie vergessen etwas«, sagte der Gefangene. »Ich habe schon eingewilligt, Ihnen zu antworten.«
    »Hier stehe ich«, sagte der Richter, »und höre keine Antwort. Gibt es einen Grund für diese Verzögerung?«
    »Die Babys werden nicht hinausgeschmuggelt«, sagte PhyrePhox. »Sie bleiben hier. Zweck des Unternehmens ist es, ihr Leben zu retten.«
    »Und wodurch genau ist ihr Leben gefährdet gewesen?«
    »Durch ihre eigenen Eltern«, sagte PhyrePhox. »Es steht schlimm im Landesinneren, Euer Ehren. Der Grundwasserspiegel hat sich gesenkt. Kindesmord hat einen neuen Höchststand erreicht.«
    »Ihr nächstes Ziel im Leben«, sagte Richter Fang, »wird es sein, das alles zu meiner Zufriedenheit zu beweisen.«
    Die Tür wurde geöffnet. Einer der Constables von Richter Fang betrat den Raum, verbeugte sich tief, um sich für die Unterbrechung zu entschuldigen, kam nach vorne und überreichte dem Richter eine Schriftrolle. Der Richter studierte das Siegel; es trug das Wappen von Dr. X.
    Er nahm die Nachricht mit in sein Büro und rollte sie auf. Es handelte sich um ein echtes Schriftstück, mit richtiger Tinte auf Reispapier geschrieben.
    Noch ehe er das Schriftstück gelesen hatte, überlegte sich Richter Fang, daß er es zu einem Kunsthändler in der Nanjing Road bringen und für ein Jahresgehalt verkaufen könnte. Dr. X, falls er diese Schriftzeichen tatsächlich selbst gepinselt hatte, war der eindrucksvollste lebende Kalligraph, dessen Arbeit Richter Fang je gesehen hatte. Seine Handschrift verriet eine rigorose Konfuzianische Bildung - jahrzehntelanges Studium, das Richter Fang nie und nimmer erreichen konnte -, doch auf dieser Grundlage hatte der Doktor einen eigenen Stil entwickelt, der höchst ausdrucksstark war, ohne nachlässig zu wirken. Es war die Handschrift eines Ältesten, der vor allem anderen die Bedeutung gedanklicher Tiefe begriffen hatte und den Großteil seiner Botschaften, nachdem er seine Würde unter Beweis

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