Diamond Age - Die Grenzwelt
Fingerabdrücke genommen und so weiter. Bedauerlicherweise muß ich sagen, daß meine geschätzten Kollegen im Büro des Hafenmeisters diese Aufzeichnungen nicht mit der gewohnten Gewissenhaftigkeit überprüften, denn in diesem Fall wären ihnen ohne jeden Zweifel frappierende Unstimmigkeiten zwischen den biologischen Merkmalen der jungen Frauen und ihren mutmaßlichen Töchtern aufgefallen, die darauf hindeuten, daß tatsächlich überhaupt kein verwandtschaftliches Verhältnis vorlag. Möglicherweise waren dringendere Belange für dieses Versäumnis verantwortlich.« Richter Fang ließ den unausgesprochenen Vorwurf im Raum stehen: daß die Behörden von Shanghai möglicherweise ebenfalls unter den Einfluß von CryptNet geraten waren. PhyrePhox bemühte sich nach Kräften, treuherzig dreinzuschauen.
»Einen Tag später plazierten wir im Rahmen einer Routineuntersuchung von Aktivitäten des organisierten Verbrechens in den Leasing-Parzellen einen Überwachungsmechanismus in einem angeblich leerstehenden Apartment, das möglicherweise für illegale Aktivitäten genutzt wurde, und hörten zu unserem Erstaunen die Stimmen zahlreicher Säuglinge. Constables führten eine Razzia durch und fanden vierundzwanzig kleine Mädchen, die zur Rasse der Han gehörten und von acht jungen Bauernfrauen versorgt wurden, die erst vor kurzem vom Land gekommen waren. Bei unseren Verhören sagten diese Frauen aus, daß sie von einem Gentleman der Han, dessen Identität nicht nachgewiesen und der noch nicht dingfest gemacht werden konnte, für diese Arbeit eingestellt worden seien. Die Säuglinge wurden untersucht. Fünf davon stammten von Ihrem Schiff, Mr. PhyrePhox – die biologischen Daten stimmen hundertprozentig überein.«
»Falls Babys an Bord des Schiffes geschmuggelt wurden«, sagte PhyrePhox, »hatte ich nichts damit zu tun.«
»Wir haben den Besitzer und Kapitän des Boots verhört«, sagte Richter Fang, »und er hat uns versichert, daß die Reise von A bis Z von Ihnen geplant und finanziert worden ist.«
»Ich mußte irgendwie nach Shanghai zurück, darum habe ich das Boot gechartert. Die Frauen wollten nach Shanghai, und ich war großzügig genug, sie mitzunehmen.«
»Mr. PhyrePhox, bevor wir anfangen, Sie zu foltern, möchte ich Ihnen etwas über meine Denkweise verraten«, sagte Richter Fang und trat so nahe vor den Gefangenen, daß sie einander in die Augen sehen konnten. »Wir haben diese Babys gründlich untersucht. Es scheint, als wären sie allesamt gut versorgt worden - keine Unterernährung oder Spuren von Mißbrauch. Weshalb sollte ich mich demnach so sehr für diesen Fall interessieren?
Die Antwort hat an sich nichts mit meinen Pflichten als Bezirksrichter zu tun. Nicht einmal mit der Konfuzianischen Philosophie per se. Es ist eine Rassenfrage, Mr. PhyrePhox. Daß ein Europäer Babys der Han in die Leasing-Parzellen schmuggelt – und von da aus, möchte ich vermuten, weiter in die Welt –, löst in mir und vielen anderen Chinesen immense, ich möchte sogar sagen, vorsintflutliche Empfindungen aus.
Während des Boxeraufstands wurde das Gerücht verbreitet, daß es sich bei den von weißen Missionaren geführten Waisenhäusern in Wahrheit um Schlachthöfe handelte, wo die Ärzte den Han-Babys die Augen aus den Köpfen schnitten, um daraus Medizin für den europäischen Markt zu machen. Daß viele Han diesen Gerüchten Glauben schenkten, darf man als Grund für die brutale Gewalt ansehen, mit der Europäer während dieses Aufstandes behandelt wurden. Es legt aber auch ein bedauerliches Zeugnis von Rassenängsten und Haß ab, die latent in den Seelen aller Menschen in allen Stämmen vorhanden sind.
Mit Ihrem Babyschmuggel haben Sie sich auf dasselbe äußerst gefährliche Terrain begeben. Möglicherweise waren diese Mädchen für ein gemütliches und liebevolles Zuhause bei anderen Phylen als den Han bestimmt. Das wäre die bestmögliche Alternative für Sie - Sie würden bestraft werden, aber leben. Es wäre jedoch denkbar, daß sie als Organspender dienen sollten - mit anderen Worten, die grundlosen Gerüchte, welche die Bauern während des Boxeraufstands veranlaßten, die Waisenhäuser zu stürmen, könnten in Ihrem Fall buchstäblich zutreffen. Tragen diese Ausführungen dazu bei, Sinn und Zweck dieses kleinen abendlichen Beisammenseins zu klären?«
Am Anfang dieser Ansprache, hatte PhyrePhox seine gewohnte Miene zur Schau gestellt - ein leeres halbes Grinsen, das einen wahnsinnig machen konnte und bei
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