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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sich bei dem Schiff um eine Art Frachter handelte, der fast ausschließlich aus riesigen Laderäumen bestand, aber statt dessen sah er als erstes einen langen Flur, der scheinbar auf der gesamten Länge des Schiffs parallel zum Kiel verlief. Junge Frauen in weißen, pinkfarbenen oder blauen Kleidern und bequemen Schuhen huschten in dem Flur hin und her und verschwanden in den zahllosen Türen oder kamen daraus hervor.
    Eine offizielle Begrüßung fand nicht statt, weder der Kapitän noch einer der Offiziere ließ sich sehen. Kaum hatten die Bootsmädchen ihnen an Bord geholfen, verbeugten und entfernten sie sich. Dr. X schlenderte den Korridor entlang, und Richter Fang folgte ihm. Die jungen Frauen in den weißen Kleidern verbeugten sich, wenn sie sich ihnen näherten, dann gingen sie weiter ihres Weges, da sie keine Zeit für ausgiebige Höflichkeitsrituale hatten. Richter Fang hatte den unbestimmten Eindruck, daß es sich um Bauernfrauen handelte, auch wenn keine die tiefe Sonnenbräune aufwies, die in China gemeinhin als Zeichen eines geringen gesellschaftlichen Status galt. Die Bootsmädchen hatten Blau getragen, woraus er schlußfolgerte, daß diese Farbe Mannschaftsmitgliedern mit nautischen oder Ingenieurspflichten vorbehalten war. Allgemein schienen die in den pinkfarbenen Kleidern jünger und schlanker als die in den weißen Kleidern zu sein. Auch der Schnitt der Kleider war ein anderer; die pinkfarbenen Kleider hatten ihren Verschluß mitten auf dem Rücken, die weißen zwei symmetrische Reißverschlüsse an der Vorderseite.
    Dr. X entschied sich offenbar willkürlich für eine Tür, schwang sie auf und hielt sie für Richter Fang fest. Richter Fang verbeugte sich knapp und betrat einen Raum, der etwa so groß wie ein Basketballfeld war, wenn auch mit einer niedrigeren Decke. Er war ziemlich warm und feucht und nur spärlich beleuchtet. Als erstes sah Richter Fang noch mehr Mädchen in weißen Kleidern, die sich vor ihm verbeugten. Dann stellte er fest, daß sonst nur Kinderbetten in dem Raum standen, Hunderte von Kinderbetten, und in jedem dieser Betten lag ein wie gemalt aussehender weiblicher Säugling. Junge Frauen in Rosa huschten mit Windeln hin und her. Ab und zu saß eine Frau neben einem der Bettchen, die Reißverschlüsse ihres weißen Kleides offen, und stillte ein Baby.
    Richter Fang wurde schwindlig. Er weigerte sich, das, was er sah, als Realität zu akzeptieren. Im Geiste hatte er sich auf das heutige Treffen vorbereitet, indem er sich immer wieder daran erinnerte, daß der Doktor jeder Hinterlist fähig war, daß er nichts, was ihm begegnete, fraglos akzeptieren sollte. Aber viele, die zum erstenmal Vater wurden, hatten im Kreißsaal feststellen müssen, daß ein richtiges Baby etwas an sich hatte, das alle Gedanken auf sich zog. In einer Welt der Abstraktionen war nichts konkreter als ein Baby.
    Richter Fang machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, indem er sich grob an Dr. X vorbeidrängte. Er entschied sich wahllos für eine Richtung und schritt, lief, rannte den Flur entlang, an fünf Türen vorbei, zehn, fünfzig, dann blieb er ohne ersichtlichen Grund stehen und riß eine andere Tür auf.
    Es hätte derselbe Raum sein können.
    Ihm war fast übel, und er mußte eiserne Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht in Tränen auszubrechen. Er verließ den Raum und stürmte eine ganze Zeitlang durch das Schiff, mehrere Treppen hinauf, über die er einige Decks passierte. Er betrat einen willkürlich ausgewählten anderen Raum und fand auch hier ein Kinderbett neben dem anderen vor, und in jedem lag ein schlafendes, einjähriges Baby; alle trugen rosa Frotteepyjamas mit Kapuze und rosa Mausohren, alle lagen unter identischen weißen Decken und alle kuschelten sich an ein Plüschtier. Hier und da saß eine junge Frau in einem pinkfarbenen Kleid auf einer Bambusmatte, las ein Buch oder nähte.
    Eine der Frauen, die am nächsten bei Richter Fang saß, legte ihr Nähzeug weg, richtete sich in eine kniende Haltung auf und verbeugte sich vor ihm. Richter Fang erwiderte die Verbeugung beiläufig und schlich zu dem ersten Kinderbett. Ein kleines Mädchen mit erstaunlich dichten Wimpern lag fest schlafend darin und atmete regelmäßig; die Mäuseohren ihrer Kapuze ragten zwischen den Gitterstäben des Bettchens heraus, und während Richter Fang sie betrachtete, bildete er sich ein, daß er das Atmen aller Kinder auf diesem Schiff hören konnte, zu einem sanften Seufzen vereint, das sein Herz

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