Diamond Age - Die Grenzwelt
l'oeil reichte aus, daß ihm schwindlig wurde, daher sah er rasch wieder nach unten. Etwas stieß polternd gegen die Hülle der Jacht, und als er ins Wasser sah, erblickte er einen menschlichen Leichnam, in ein weißes Laken eingeschlagen, der dreißig oder sechzig Zentimeter unter der Wasseroberfläche dahintrieb und vage vom Licht der hohen Gebäude angestrahlt wurde.
Schließlich gelangte die Jacht in die Jangtsemündung, an dieser Stelle nur ein paar Meilen vom Ostchinesischen Meer entfernt, Meilen breit und weitaus kälter und rauher. Richter Fang und Dr. X zogen sich in einen Speisesaal mit Panoramafenstern unter Deck zurück, in denen sich vornehmlich das Licht der Kerzen und Laternen um den Tisch herum spiegelte. Kaum hatten sie sich gesetzt, beschleunigte die Jacht heftig, schoß zuerst vorwärts und ragte dann mit dem Bug aus dem Wasser heraus, bevor sie ihre konstante, gleichförmige Fahrt fortsetzte. Richter Fang stellte fest, daß es sich bei der Jacht in Wahrheit um ein Schwebeboot handelte, das lediglich auf der Hülle dahingedümpelt war, während sie die Aussicht auf die Stadt genossen hatten, sich jetzt aber aus dem Wasser erhob.
Bis jetzt waren fast ausschließlich förmliche Höflichkeitsfloskeln gewechselt worden. Das führte schließlich zu einer Diskussion über die Philosophie des Konfuzius und die traditionelle Kultur, ein Thema, das beide eindeutig gleichermaßen bewegte. Richter Fang hatte dem Doktor ein Kompliment wegen seiner meisterlichen Kalligraphie gemacht, worauf sie sich eine Zeitlang über diese Kunst unterhielten. Schließlich hatte Dr. X das Kompliment pflichtschuldig erwidert und Richter Fang wissen lassen, wie hervorragend er seinen Pflichten als Richter nachkam, besonders angesichts des zusätzlichen Problems, daß er es überwiegend mit Barbaren zu tun hatte.
»Wie Sie im Falle des Mädchens und ihres Buchs Recht gesprochen haben, legte ein besonders beredtes Zeugnis von Ihren Fähigkeiten ab«, sagte Dr. X ernst.
Richter Fang fand es interessant, daß der Junge, der das Buch tatsächlich gestohlen hatte, unerwähnt blieb. Er vermutete, daß Dr. X nicht unbedingt auf das Verbrechen selbst anspielte, sondern auf Richter Fangs anschließendes Bestreben, das Mädchen zu beschützen.
»Diese Person empfindet Dankbarkeit, doch sollte das Lob allein dem Meister gezollt werden«, sagte Richter Fang. »Die Rechtsfindung in diesem Falle erfolgte einzig nach seinen Prinzipien, wie Ihnen zweifellos nicht entgangen wäre, wären Sie imstande gewesen, uns die Ehre Ihrer Anwesenheit im Haus des Ehrwürdigen und Unergründlichen Oberst zuteil werden zu lassen.«
»Ah, es ist wahrlich ein Pech, daß ich nicht dabeisein konnte«, sagte der Doktor, »da es zweifellos dazu beigetragen hätte, mein eigenes, so unvollkommenes Verständnis der Prinzipien des Meisters zu vertiefen.«
»Eine derartige Unterstellung lag mir fern – ich denke vielmehr, der Doktor hätte mir und meinem Personal helfen können, eine angemessenere Lösung der Angelegenheit zu finden, als wir es tatsächlich imstande waren.«
»Möglicherweise wäre es für uns beide eine glückliche Fügung gewesen, hätten wir an ebenjenem Tilge gemeinsam im Haus des Oberst sein können«, sagte Dr. X, der ohne Mühe seinen Gleichmut wiedererlangt hatte. Es folgte ein mehrminütiges Schweigen, da ein neuer Gang aufgetragen wurde und der Kellner Pflaumenwein einschenkte. Dann fuhr Dr. X fort: »Ein Aspekt des Falles, der mich in besonderem Maße wünschen ließ, Ihre Weisheit konsultieren zu können, ist die Disposition des Buchs.«
Also beschäftigte ihn dieses Buch nach wie vor. Obwohl Wochen verstrichen waren, seit Dr. X zum letztenmal seine Buchjägermilben im Luftraum der Leasing-Parzellen freigelassen hatte, wußte Richter Fang, daß er noch eine hohe Belohnung für jeden ausgesetzt hatte, der ihm etwas über den Verbleib des Buches sagen konnte. Richter Fang fragte sich allmählich, ob diese zwanghafte Besessenheit von dem Buch ein Symptom für ein generelles Nachlassen der Geisteskräfte des Doktors sein konnte.
»Ihr Rat zu diesem Thema wäre von unschätzbarem Wert für mich gewesen«, sagte Richter Fang, »da dieser Aspekt des Falles sich gerade für einen Konfuzianischen Richter als besonders schwierig erwies. Hätte es sich bei dem gestohlenen Gegenstand um etwas anderes als ein Buch gehandelt, wäre er konfisziert worden. Aber ein Buch ist etwas anderes - es ist nicht nur ein materieller Besitz, sondern ein Pfad
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