Diaspora
genau, daß es mir nicht gefallen wird. Geh nur.«
Inoshiro zögerte, während hie die Gesichtszüge langsam wieder in den Normalzustand zurückkehren ließ. »Du könntest Hashims Werk schätzen lernen, wenn du nur wolltest. Wenn du das richtige Vademecum benutzen würdest.«
Yatima starrte hie an. »Das wirst du tun?«
»Ja.« Inoshiro streckte die Hand aus, und eine Blume entsproß der Handfläche, eine grün-violette Orchidee, die eine Adresse der Ashton-Laval-Bibliothek trug. »Ich habe es dir bislang verschwiegen, weil du es vielleicht Blanca weitererzählt hättest … und dann hätte es irgendwann jemand von meinen Eltern erfahren. Du weißt ja, wie sie sind.«
Yatima zuckte die Achseln. »Du bist ein Bürger, es geht sie nichts an.«
Inoshiro verdrehte die Augen und setzte einen gequälten Ausdruck auf. Yatima bezweifelte, daß hie jemals verstehen würde, was es mit Familien auf sich hatte. Keiner von Inoshiros Verwandten konnte hie in irgendeiner Weise bestrafen, daß hie dieses Vademecum benutzte, und daran hindern konnte hie erst recht niemand. Alle tadelnden Botschaften ließen sich ausfiltern, alle Familiensitzungen, die sich in Strafpredigten verwandelten, konnte man unverzüglich verlassen. Dennoch hatten Blancas Eltern – von denen drei auch Inoshiros waren – hie so lange bedrängt, bis hie sich von Gabriel getrennt hatte (wenn auch nur vorübergehend). Eine Exogamie mit Carter-Zimmerman war offenbar völlig indiskutabel. Nachdem sie nun wieder zusammen waren, mußte Blanca (aus irgendeinem Grund) Inoshiro genauso wie dem Rest der Familie aus dem Weg gehen – worauf Inoshiro nun vermutlich nicht mehr befürchtete, daß hein Teil-Geschwister etwas ausplaudern würde.
Yatima war leicht gekränkt. »Ich hätte es Blanca niemals erzählt, wenn du mich darum gebeten hättest, es nicht zu tun.«
»Ja, sicher. Hast du gedacht, ich hätte es vergessen? Hie hat dich praktisch adoptiert.«
»Als ich noch in der Plazenta war!« Yatima mochte Blanca immer noch sehr, aber in letzter Zeit sahen sie sich nicht mehr häufig.
Inoshiro seufzte. »Okay, es tut mir leid, daß ich es dir nicht früher gesagt habe. Kommst du jetzt mit, um dir das Stück anzusehen?«
Yatima beschnupperte noch einmal mißtrauisch die Blume. Die Ashton-Laval-Adresse hatte einen unverkennbar fremden Geruch – aber das war nur die Unvertrautheit. Hie ließ hein Exo-Ich eine Kopie vom Vademecum anfertigen, um sie aufmerksam zu inspizieren.
Yatima wußte, daß Radiya und die meisten anderen Wissenssucher Vademecums benutzten, um sich über etliche Gigatau auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Jeder Bürger mit einem Geist, der auch nur annähernd nach dem Vorbild eines Körperlichen modelliert war, war für die Drift anfällig. Im Laufe der Zeit konnten selbst die kostbarsten Ziele und Werte verfallen. Die Flexibilität war ein wichtiger Teil des körperlichen Erbes, doch nach der Entsprechung von einem Dutzend Lebensspannen der Prä-Introdus-Ära drohte selbst der robustesten Persönlichkeit die Gefahr, daß sie sich in einem entropischen Gewirr verhedderte. Die Gründer der Poleis hatten bewußt darauf verzichtet, vorbestimmte Stabilisierungsmechanismen in ihre Grundbaupläne zu integrieren, damit die gesamte Spezies nicht zu einem Stamm sich selbst erhaltender Monomanen mit einer Handvoll Meme als Parasiten versteinerte. Man hielt es für wesentlich sicherer, wenn jeder Bürger die Freiheit hatte, aus einer großen Auswahl von Vademecums wählen zu können: aus Programmen, die im Exo-Ich liefen und die Eigenschaften verstärkten, die einem am meisten bedeuteten – sofern man das Bedürfnis nach einem derartigen Anker verspürte. Die Möglichkeiten zu kurzzeitigen interkulturellen Experimenten waren nahezu vernachlässigbar.
Jedes Vademecum bestand aus einem leicht unterschiedlichen Paket aus moralischen und ästhetischen Werten, die häufig auf den Vergnügungen der Vorfahren beruhten, die immer noch zumindest rudimentär im Geist jedes Bürgers vorhanden waren: Regelmäßigkeiten und Periodizitäten – Rhythmen wie Tage und Jahreszeiten. Harmonien und Ausschmückungen, in Klängen und Bildern sowie in Ideen. Neuheiten. Erinnerungen und Erwartungen. Klatsch, Freundschaft, Mitgefühl, Mitleid. Einsamkeit und Stille. Das Kontinuum erstreckte sich von trivialen ästhetischen Präferenzen über emotionale Assoziationen bis zu den Fundamenten der Moralität und Identität.
Yatima ließ die Analyse des Vademecums durch hein
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