Diaspora
riesige Spur ähnlicher Erinnerungsstücke über die Savanne erstreckte – eine Landkarte, die hie jederzeit überfliegen konnte, wenn hie die Wendepunkte heines Lebens wiedersehen wollte … doch dann war hie die Idee reichlich kindisch vorgekommen. Wenn die Dinge, die hie gesehen hatte, hie verändert hatten, dann hatten sie hie verändert. Es bestand kein Grund, sie als Monumente wiederzuerschaffen. Hie hatte das Forum behalten, weil hie es wirklich sehr gerne besuchte – und den Asteroiden aus reiner perverser Freude daran, dem Drang Widerstand zu leisten, ihn wegzuräumen.
Yatima stand eine Weile neben der Fontäne und beobachtete, wie die silberne Flüssigkeit mühelos den physikalischen Gesetzen spottete, denen sie zur Hälfte gehorchte. Dann schuf hie daneben noch einmal den Oktaeder, das Netz mit den sechs Punkten aus heiner Lektion mit Radiya. Daß die Physik in den Poleis keine Bedeutung hatte, war hie schon immer klar gewesen, genauso wie den meisten anderen Bürgern. Gabriel war natürlich anderer Meinung, aber hie mußte sich einfach an die Carter-Zimmerman-Doktrin halten. Der Springbrunnen konnte die Gesetze der Flüssigkeitsdynamik genauso mühelos ignorieren, wie er ihnen entsprechen konnte. Alles, was hier geschah, war rein willkürlich, selbst die vollkommene Gravitationsparabel zu Anfang jedes Strahls, bevor die Schweinchen sich bildeten, war ausschließlich ein ästhetisches Kriterium – und diese Ästhetik wiederum war nicht mehr als der rudimentäre Einfluß des körperlichen Erbes.
Der Oktaeder war jedoch etwas anderes. Yatima spielte mit dem Objekt, verzerrte es wahllos, streckte und verdrehte es, bis die Grundform nicht mehr zu erkennen war. Es war unbegrenzt verformbar … und doch blieb es durch ein paar geringfügige Einschränkungen hinsichtlich der Veränderungsmöglichkeiten letztlich unverformbar. Ganz gleich, wie sehr hie die Form verzerrte, wie viele zusätzliche Dimensionen hie hinzufügte, dieses Netz würde niemals flach werden. Hie konnte es durch etwas völlig anderes ersetzen – zum Beispiel ein Netz, das einen Torus umschloß – und dann dieses neue Netz flach werden lassen … doch das wäre genauso sinnlos, wie ein nicht-intelligentes Objekt mit Inoshiros Gestalt zu erschaffen, es in die Wissensminen zu zerren und dann zu behaupten, es wäre hie gelungen, heinen echten Freund zu überzeugen, hie dorthin zu begleiten.
Polis-Bürger, schloß Yatima, waren Geschöpfe der Mathematik. Die Mathematik lag allem zugrunde, was sie waren, und allem, was sie werden konnten. Wie formbar ihr Geist auch sein mochte, in gewisser Weise unterlagen sie denselben grundsätzlichen Einschränkungen wie das Oktaedernetz – abgesehen vom Selbstmord und völliger Neuschöpfung. Sie konnten sich bestenfalls auslöschen und eine neue Persönlichkeit schaffen. Das bedeutete, daß sie eine individuelle, unveränderbare mathematische Signatur besaßen – wie die Eulersche Zahl, nur um einige Größenordnungen komplexer. Inmitten des Chaos aus Details mußte es in jedem Geist etwas geben, daß von der Zeit unberührbar war, das nicht von den veränderlichen Gewichtungen der Erinnerung und Erfahrung beeinflußt wurde, das nicht durch Veränderungen aus eigener Kraft modifiziert wurde.
Hashims Kunstwerk war elegant und bewegend gewesen – und selbst nachdem das Vademecum nicht mehr lief, waren die kraftvollen Emotionen, die es wachgerufen hatte, zurückgeblieben. Dennoch war Yatima nicht in heiner Wahl der Berufung erschüttert worden. Die Kunst besaß durchaus ihren Stellenwert, wenn sie mit den Überresten der Instinkte und Triebe spielte, die die Körperlichen einst in ihrer Unschuld als Verkörperungen einer unwandelbaren Wahrheit betrachtet hatten – doch nur in den Minen bestand Hoffnung, die wahren Konstanten der Identität und des Bewußtseins zu entdecken.
Nur in den Minen konnte hie darauf hoffen, irgendwann zu verstehen, wer hie wirklich war.
3 Brückenschlag
Atlanta, Erde
23 387 545 324 947 KSZ
21. Mai 2975, 11:35:22.101 WZ
Yatimas Klon wurde im Gleisner-Körper aktiviert und verbrachte einen Augenblick damit, um sich über heine Situation bewußt zu werden. Die Erfahrung des ›Erwachens‹ unterschied sich kaum von der Ankunft in einer neuen Landschaft. Nichts deutete auf die Tatsache hin, daß soeben hein gesamter Geist neu erschaffen worden war. Zwischen zwei subjektiven Augenblicken war hie vom Konishi-Dialekt von Shaper, der auf der virtuellen Maschine
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