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Diaspora

Diaspora

Titel: Diaspora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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…«
    Yatima unterbrach hie. »Ich verstehe nicht. Wie kann den Körperlichen irgendeine Gefahr drohen? Sie mögen nicht so gut abgeschirmt sein wie wir, aber sie haben immer noch die gesamte Atmosphäre über dem Kopf! Wie groß ist der Anteil der Gammastrahlung, die den Boden erreicht?«
    »Fast null. Aber der größte Anteil wird es bis zur unteren Schicht der Stratosphäre schaffen.« Ein Atmosphärenspezialist aus C-Z hatte die Auswirkungen in einem detaillierten Modell berechnet. Inoshiro produzierte ein Adressetikett, und Yatima sah sich die Datei an.
    Auf einer Hälfte des Planeten wurde innerhalb kürzester Zeit die Ozonschicht zerstört. Der Stickstoff und Sauerstoff in der Stratosphäre wurde durch die Gammastrahlung ionisiert und verband sich zu Stickoxiden, insgesamt zweihundert Milliarden Tonnen, die dreißigtausendfache Menge des derzeitigen Vorkommens. Dieser Schleier aus NO x verringerte nicht nur die Oberflächentemperaturen um mehrere Grad, sondern hielt das Ultraviolettfenster ein Jahrhundert lang offen, während die Stickoxide die Zerstörung des Ozons genauso schnell katalysierten, wie es neu gebildet wurde.
    Irgendwann würden die Stickoxidmoleküle in die unteren Atmosphärenschichten geraten, wo sich ein Teil wieder in die harmlosen Bestandteile aufspaltete. Der Rest – ein paar Milliarden Tonnen – würde als saurer Regen niedergehen.
    »Diese Voraussagen«, fuhr Inoshiro ernst fort, »gehen allesamt aus von einer bestimmten Gesamtenergie für den Gammastrahlen-Ausbruch, doch das könnte sich als genauso falsch erweisen wie alles, was man bisher über Lacerta G-1 zu wissen glaubte. Bestenfalls müssen die Körperlichen ihre gesamte Nahrungsversorgung völlig neu organisieren. Schlimmstenfalls ist die Biosphäre so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß sie gar kein Leben mehr ermöglicht.«
    »Das ist furchtbar.« Doch Yatima spürte, wie hie sich bereits in eine Art matter Resignation zurückzog. Einige Körperliche würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sterben … doch andererseits waren immer wieder Körperliche gestorben. Sie hatten in den Poleis Jahrhunderte vor sich, wenn sie bereit waren, die prekäre Gastfreundlichkeit der physischen Welt hinter sich zu lassen. Als hie auf hein großartiges Experiment blickte, wurde hie bewußt, daß Inoshiro hie nicht einmal die Gelegenheit gegeben hatte, es überhaupt zu erwähnen.
    »Wir müssen sie warnen. Wir müssen zurückkehren.«
    »Zurückkehren?« Yatima starrte hie verblüfft an.
    »Du und ich. Wir müssen noch einmal nach Atlanta gehen.«
    Ein vages Bild erschien: zwei Körperliche, von denen einer saß. Ein Mann und eine Frau? Yatima hatte das Gefühl, sie vor längerer Zeit in einem von Inoshiros Kunstwerken gesehen zu haben. Wir müssen noch einmal nach Atlanta gehen? War das eine Zeile aus demselben Stück? Inoshiros Slogans schienen nach einiger Zeit alle gleich zu klingen: »Wir alle müssen jetzt gehen und im Garten arbeiten.« – »Wir müssen noch einmal nach Atlanta gehen.« –
    Yatima rief bewußt den vollständigen Kontext der Fragmente auf. Während hie älter geworden war, hatte hie sich für die Schichtung heines Gedächtnisses entschieden – anstelle der Erosion oder völligen Löschung –, damit heine Gedanken nicht von einer lähmenden Unmenge von Erinnerungen überschwemmt wurden. Sie hatten sich zwei aufgegebene Gleisner für eine Spritztour ausgeborgt! Nur sie zwei, als Yatima kaum einen halben Gigatau alt gewesen war. Sie waren ungefähr achtzig Megatau lang fort gewesen – was in diesem Alter wie eine Ewigkeit gewesen sein mußte, obwohl, wie sich herausstellte, selbst Inoshiros Eltern kaum von diesem Jugendstreich beeindruckt waren. Der Dschungel. Die Stadt, von Feldern umgeben. Sie hatten sich vor Treibsand gefürchtet – aber sie hatten einen Führer gefunden.
    Für einen Moment schämte Yatima sich zu sehr, um etwas sagen zu können. Dann sprach er benommen: »Ich habe sie begraben. Orlando, Liana … die Mittler. Ich habe sie alle begraben.« Im Verlauf der Zeit hatte hie diese Erfahrungen in immer tiefere Schichten versinken lassen, um Platz für aktuellere Dinge zu schaffen – bis es ausgeschlossen war, daß sie zufällig in heine Gedanken drangen, mit anderen Erinnerungen interagierten, heine Haltungen und Stimmungen beeinflußten. Bis die Körperlichen wieder nur Körperliche gewesen waren, anonym und fern, exotisch und entbehrlich. Die Apokalypse hätte kommen und gehen

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