Diaspora
Gabriel überrascht, »wenn ich nur daran denke, daß ich die Kontrolle über mein Icon aufgeben soll. Das muß etwas Rudimentäres sein. Weißt du, daß selbst geflügelte Vitale sehr heftig auf einen freien Fall reagierten? Sich fallen zu lassen war für sie häufig ein sinnvolles Flugmanöver, aber sie verspürten immer den instinktiven Wunsch, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden.«
»Dann versuche, nicht in Panik zu geraten und nicht davonzufliegen. Das würde ich dir niemals verzeihen. Bist du bereit?«
»Nein.« Gabriel reckte den Kopf vor. »Das gefällt mir überhaupt nicht.«
Blanca drückte seine Hand und trat einen Schritt vor. Dann ließen die Gesetze der imaginären Welt sie beide in die Tiefe stürzen.
9 Freiheitsgrade
Carter-Zimmerman-Polis, interstellarer Raum
58 315 855 965 866 KSZ
21. März 4082, 8:06:03.020 WZ
Blanca fühlte sich verpflichtet, die Außenhülle mindestens einmal pro Jahr zu besuchen. Jeder in Carter-Zimmerman wußte, daß hie sich entschieden hatte, während der Reise nach Fomalhaut einen Teil der Zeit subjektiv zu erleben – trotz Gabriels Entschluß, während der gesamten Flugdauer in Stasis zu verbleiben. Und dafür gab es eigentlich nur einen einzigen vernünftigen Grund.
»Blanca! Du bist wach!« Enif hatte hie längst entdeckt und stürmte auf allen vieren über die von Mikrometeoriten durchlöcherte Keramikhülle auf hie zu, ohne jedes Anzeichen der Unsicherheit. Alnath und Merak folgten ihm mit etwas vorsichtigerer Geschwindigkeit. Die meistens Osvalds benutzten Verkörperungssoftware, um hypothetische, ans Vakuum angepaßte Körperliche zu simulieren, die stilecht mit luftdichter, wärmeisolierender Haut, Infrarot-Kommunikation, Handflächen und Fußsohlen mit variabler Haftung und simulierter Reparaturfähigkeit für simulierte Strahlungsschäden ausgestattet waren. Der Entwurf war hundertprozentig funktionell, doch da jeder Weltraumklon von Carter-Zimmerman kaum größer als eine dieser Sternenwelpen war, hatte es außer Frage gestanden, reale Entsprechungen als Passagiere mitzunehmen. Die Hülle war lediglich eine plausible Fiktion, eine synthetische Landschaft, die den realen Anblick des Himmels mit einem imaginären Raumschiff von mehreren hundert Metern Länge kombinierte. Da es tausendmal schwerer als die Polis wäre, hätte es nur real werden können, wenn man die Diaspora um ein paar Jahrtausende verschoben hätte, um ausreichend Antiwasserstoff als Treibstoff herzustellen.
Enif wäre fast mit hie zusammengestoßen, konnte aber im letzten Moment ausweichen, wobei er fast den Halt verloren hätte. Er mußte ständig mit seinen hochentwickelten Fähigkeiten, sich auf der Hülle zu bewegen, angeben, doch Blanca fragte sich, was die anderen getan hätten, wenn er die Haftung falsch eingeschätzt und sich in den Weltraum katapultiert hätte. Hätten sie die sorgfältig simulierte Physik verletzt und ihn mit einem Zaubertrick zurückgeholt? Oder hätten sie eine ernsthafte Rettungsmission gestartet?
»Du bist wach! Exakt ein Jahr später!«
»Richtig. Ich habe beschlossen, zu eurem Frühlingsäquinoktium zu werden, um euch an die Rhythmen unseres Heimatplaneten zu erinnern.« Blanca konnte nicht anders; seit hie festgestellt hatte, daß die Osvalds aufgrund ihres Vademecums ganz versessen auf alten Astrojargon waren, als wäre es eine tiefgründige Offenbarung, hatte hie versucht, es auf die Spitze zu treiben, um zu sehen, ob in ihrer perfekten Anpassung an die harten Lebensbedingungen der interstellaren Reise nicht irgendein Rest von Ironie übriggeblieben war.
Enif seufzte glücklich. »Du bist unsere aufgehende dunkle Sonne, ein nostalgisches Nachbild auf unserer kollektiven Netzhaut!« Die anderen hatten ihn eingeholt und begannen nun zu dritt eine ernsthafte Diskussion, wie wichtig es sei, mit den uralten Zyklen der Erde im Einklang zu bleiben. Die Tatsache, daß sie alle in der fünften Generation in C-Z geboren und niemals auch nur ansatzweise dem Einfluß der Jahreszeiten ausgesetzt gewesen waren, schien ihnen keine Erwähnung wert.
Als die Carter-Zimmerman-Polis tausendfach geklont und die Kopien in tausend Richtungen auf den Weg geschickt worden waren, hatte sich die überwältigende Mehrheit der Bürger, die an der Diaspora teilnahmen, vernünftigerweise entschieden, ihre Snapshots bis zur Ankunft eingefroren zu lassen, um sowohl Langeweile als auch Gefahr zu vermeiden. Wenn eine Snapshot-Datei unterwegs zerstört
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