Diaspora
Roboter irgendwelchen Schaden anrichten konnte. Alles, was sie im Wasser zurückließen, waren ein paar Kilojoule an Abwärme. Dennoch hatte sich eine Fraktion gebildet, die zur Vorsicht riet. Die Bürger von Carter-Zimmerman, so argumentierten sie, konnten noch ein Jahrzehnt lang – oder auch ein Jahrtausend – aus der Ferne zuschauen, um ihre Beobachtungen und Hypothesen zu verbessern, bevor sie eindrangen … und jene, die nicht damit einverstanden waren, konnten die Zeit problemlos im Schlaf überdauern oder sich anderen Interessen widmen.
Paolo tauchte in sein Bibliothekswissen über die ›Teppiche‹ ein, die einzige bislang entdeckte Lebensform auf Orpheus. Es waren frei schwimmende Kreaturen, die in den Tiefen des äquatorialen Ozeans lebten. Sie würden offensichtlich durch die UV-Strahlung sterben, wenn sie näher zur Oberfläche emporstiegen, doch in ihrem gewohnten Habitat waren sie ausreichend geschützt, um nichts von Lacerta gespürt zu haben. Sie wuchsen zu einer Größe von mehreren hundert Metern heran, dann teilten sie sich in Dutzende Fragmente, die jedes für sich weiterwuchsen. Es war eine verlockende Vermutung, daß es sich um Kolonien aus einzelligen Organismen handelte, eine Art Riesen-Seetang, doch es gab keine konkreten Beweise zur Stützung dieser Annahme. Es war schwierig genug für die Scoutsonden, das Aussehen und Verhalten der Teppiche durch einen Kilometer Wasser zu erkennen, auch wenn Wegas reichlicher Neutrinostrom den Weg erhellte. Fernbeobachtungen im mikroskopischen Maßstab, ganz zu schweigen von biochemischen Analysen, standen außer Frage. Die Spektroskopie ergab, daß das Oberflächenwasser voller interessanter Molekültrümmer war, doch Mutmaßungen über Beziehungen zu den lebenden Teppichen waren wie der Versuch, die Biochemie der Körperlichen aus dem Studium ihrer Asche rekonstruieren zu wollen.
Paolo wandte sich an Elena. »Was meinst du?«
Sie seufzte theatralisch. Das Thema mußte bereits erschöpfend durchdiskutiert worden sein, während er geschlafen hatte. »Die Mikrosonden sind harmlos. Sie könnten uns genau verraten, woraus die Teppiche bestehen, ohne ein einziges Molekül zu entfernen. Welches Risiko hätten wir zu befürchten? Einen Kulturschock?«
Paolo spritzte ihr liebevoll Wasser ins Gesicht. Der Antrieb dazu schien aus dem amphibischen Körper zu stammen. »Du kannst nicht sicher sein, daß sie nicht intelligent sind.«
»Weißt du, was auf der Erde gelebt hat, zweihundert Millionen Jahre nachdem sie sich gebildet hat?«
»Vielleicht Zyanobakterien. Vielleicht nichts. Doch das ist nicht die Erde.«
»Richtig. Aber selbst wenn der unwahrscheinliche Fall zutreffen sollte, daß die Teppiche intelligent sind, glaubst du wirklich, sie würden etwas von Robotern bemerken, die ein Millionstel so groß sind wie sie? Falls es einheitliche Organismen sind, so scheinen sie auf nichts in ihrer Umwelt zu reagieren – sie haben keine Freßfeinde, sie gehen nicht auf die Jagd nach Beute, sondern sie lassen sich nur mit der Strömung treiben. Also gibt es keinen Grund, warum sie komplexe Sinnesorgane entwickelt haben sollten, ganz zu schweigen von der Wahrnehmung von Objekten, die winziger als ein Millimeter sind. Und wenn sie Kolonien aus Einzellern sind und eine Zelle zufällig mit einer Mikrosonde kollidiert und ihre Anwesenheit mit Oberflächenrezeptoren wahrnimmt – welchen Schaden könnte es anrichten?«
Paolo zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Aber meine Unwissenheit ist keine Garantie für Gefahrlosigkeit.«
Elena spritzte zurück. »Der einzige Weg, deine Unwissenheit zu bewältigen, besteht darin, dafür zu stimmen, die Mikrosonden nach unten zu schicken. Ich sehe ein, daß wir vorsichtig sein müssen, aber unsere Anwesenheit hier hat keinen Sinn, wenn wir nicht herausfinden, was in den Ozeanen vor sich geht. Ich will nicht abwarten, bis dieser Planet etwas hervorbringt, das intelligent genug ist, um biochemische Erkenntnisse in den Weltraum zu senden. Wenn wir nicht bereit sind, ein geringfügiges Risiko einzugehen, wird Wega zum Roten Riesen, bevor wir irgend etwas erfahren haben.«
Das war natürlich nicht wörtlich gemeint, aber Paolo versuchte sich vorzustellen, wie er irgendwann Zeuge dieses Ereignisses wurde. Würden die Bürger von Carter-Zimmerman in einer Viertelmilliarde Jahre über die Ethik einer Intervention zur Rettung der Bewohner von Orpheus debattieren – oder hätten sie längst das Interesse verloren und sich auf
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