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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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statt dessen selber. So ging es immer weiter. An der Hochschule wurde er Marxist. Zu seinen ersten Schreibversuchen ermunterte ihn ein Parteisekretär. Ein Idealist! Jakob war Feuer und Flamme. Der Idealist redigierte das Großmutter-Typoskript unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die herrschende Partei. Die Lügen, die sich ergaben, ließ Jakob zu, obwohl er sie bemerkte. Er schämte sich für die Partei, und was tat er? Trat ihr bei. Was tat sein Förderer? Floh in die BRD . Jakob wurde selbst Parteisekretär. Er wollte es besser machen.
    So ging es immer weiter, von einem Gewissenskäfig in den nächsten, in seltsam beseeltem Ton. » Wie ist meine Bilanz?« hörte ich Jakob fragen, wohl im Traum, denn es war in einer Wüste. Ich erwachte, weil mein Kopf gegen die Scheibe fiel.
    Es wurde bereits hell. Vor uns schälte sich ein toter Baum aus der Dämmerung, rindenlos grau, Flechten wie Spinnweben zwischen den dürren Ästen. Etwas dahinter noch einer, dann ein weiterer, seitlich, wir standen am Rande eines Talkessels vor einem Heer kahler Stämme. Der Nebel verschwand wie ein Spuk. Hinter einem grätigen schwarzen Bergkamm wölbte sich die Sonne und löste sich vom zerstörten Wald als wabernde rote Blase.
    *
    In unseren letzten böhmischen Tagen war Jakob wie entfesselt, schwankend zwischen Grübelei, Empfindungslust und hysterischer Melancholie. » Wie ist meine Bilanz? Warum geht man, ohne zu sehen? Warum erduldet man Sklaverei?« Wir bezogen eine Pension in der Gegend von P ř ebuz und suchten nach dem Großmutterdorf. Jakob hatte einen Namen im Kopf, der nicht stimmte, und als Erinnerung zwei Fotografien. Eine stammte von 1937 und zeigte neben bepackten Handwagen Bauern mit stumpfen, traurigen Gesichtern. Das war Jakobs tschechische Familie, die von den Nazis vertrieben wurde. Die deutschen Nachbarn stehen im Halbkreis um sie herum, ausdruckslos. Das zweite Foto zeigte die Großmutter. Ein volles, erstaunlich strenges Gesicht. Der kleine Jakob hat einmal die alte Frau über ihren kümmerlichen Enkel sagen hören: Ich muß Jakob liebhaben, weil niemand sonst es tun wird. » Sie hatte ja recht!« erklärte er tapfer. » Auch wo sie hart war, hatte sie recht.« Sie sagte etwa: » Jakob, sieh mal nach dem Duschahof, die neuen Siedler waren schon lang nicht mehr da.« Die Duschas waren vertrieben worden, junge Leute aus der Karpato-Ukraine hatten den Hof übernommen. Ringsum standen damals Gehöfte und Dörfer leer, die deutsche Bevölkerung war weg, die tschechische dezimiert, die Regierung suchte überall nach Bauern, aber Siedler aus dem Flachland kamen im Gebirge selten zurecht, und natürlich gab es auch Gauner, die nur die Häuser ausräumten. Omi fühlte sich zuständig und rang die Hände.
    Der Duschahof war einer der größten gewesen, mit zehn Stück Rindvieh; er lag sieben Kilometer entfernt bergab. Jakob hörte schon von weitem die Fensterflügel schlagen, der Wind fegte durchs Haus, die Häkelgardinen waren zerrissen. Jakob schloß die Fenster, wanderte durch die geplünderten Zimmer und fühlte sich eine halbe Stunde lang als Herr. Er kannte die Duschas und wußte, wo das Bonbonglas versteckt gewesen war. Die Plünderer hatten es nicht gefunden. Er aß so viele Bonbons, bis ihm schlecht war, und stopfte die übrigen in seine Taschen.
    Als er zurückkam, antwortete er wahrheitsgemäß: » Die Siedler sind weg.«
    » Was ist mit den Kühen?«
    » Die haben gebrüllt.«
    Er bekam die härteste Ohrfeige seines Lebens, wie eine Explosion.
    Als wir von P ř ebuz aus Richtung Grenze fuhren, sagte er auf einmal in einfältigem Ton: » Also, was mir einfiel … peinliche Sache … Am Montag ist im Betrieb ein Parteiverfahren … gegen den Genossen soll eine Parteistrafe … Eigentlich will ich nicht … Ähem, könnte ich nicht mit dir nach Halle … einfach später aus dem Urlaub zurück?«
    Ich wimmelte ihn ab, vielleicht etwas schroff. Jakob mit seinen Gewissensanalysen und moralischen Expertisen plötzlich als sozialistischer Spießer – aus wie vielen Farben ist der Mensch zusammengesetzt!
    Diesmal aber gab es eine Peripetie: Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. » Was bin ich für ein Sklave! Warum gibt es keinen Ausweg aus dem Kreislauf der Sünde?«
    Sünde?
    » Keinen Ausweg!« keuchte er, » … meine Omi … verlassen …«
    Sein Gesicht wurde rot, er wandte sich ab und keuchte: » Die Hierarchie der Schmerzen!«
    Das Folgende war ein Gegurgel. » Ohrfeigen« verstand ich, und:

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