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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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schäkere ich zurück, schließlich, wann habe ich das zuletzt erlebt. Erst als Gabriel einnickt, wird mir bang. Seit halb zwölf bin ich allein Ziel der anhaltinischen Avancen, und um Tempo aus der Sache zu nehmen, erzähle ich von meiner Seniorenbahncard und den Depressionen.
    » Merkt man Ihnen gar nicht an, Herr Steiger!« ruft sie feurig.
    Ich merke es mir selbst nicht an. » Man merkt es nicht«, sage ich, » weil ich ein Antidepressivum schlucke. Leider macht es impotent.«
    » Ach, das bilden Sie sich bestimmt nur ein!«
    Sie wohnt im Hotel, ich bringe sie zum Ausgang, um die Glastür aufzuschließen. Als ich ihr eine gute Nacht wünsche, kneift sie mich plötzlich in die Hüfte und kichert: » Na?«
    Erschüttert kehre ich ins Kaminzimmer zurück. » Was ist passiert?« fragt Gabriel schlaftrunken.
    » Hast du mich nicht schreien gehört?«
    » Du wirkst so munter!«
    *
    Jakob Jehlitschka ist fünf Jahre jünger als ich, debütierte aber im selben Jahr mit einem autobiographischen Büchlein über seine Großmutter, das bald Schullektüre wurde. Ich fand damals, daß er seinem rührenden, stolzen und traurigen Buch auf rührende und traurige Weise glich. Er hatte hervortretende braune Augen, die wie tastend ständig in Bewegung waren, und lächelte ständig mit seinen großen, nach innen stehenden Schneidezähnen, was seinem Ausdruck etwas Verschrecktes gab. Er war groß und dünn, ohne Hintern, ohne Hinterkopf. Er selbst leitete seine Schüchternheit nicht von der kläglichen Physis ab, sondern von einer dramatischen Kindheit. Diese Kindheit machte ihn berühmt, solange er sie als Märchen erzählte. Aber der Reihe nach.
    Die Großmuttergeschichte ging, kurzgefaßt, so: Jakobs böhmische Eltern verschwanden in den Wirren des Kriegsendes. Der Vater war verschollen, die Mutter floh nach Sachsen, wo sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Der fünfjährige Knabe landete im Heim. Jakob litt, natürlich unter Einsamkeit und Verrat, dann unter Kälte und Hunger. Am meisten aber – das verriet er mir später, es stand nicht im Büchlein –, am meisten litt er unter der Grausamkeit seiner Mitschüler. Er habe nie begriffen, daß diese einsamen, verwaisten oder abgeschobenen Kinder nicht zusammenhielten, sondern einander folterten. Das ist das Thema seines Lebens geblieben.
    Wann immer er sich davonstehlen konnte, ging der kleine Jakob in den Klostergarten und starrte durch ein Mauerloch auf die Felder hinaus, da der Anblick von Weite ihn tröstete. Einmal an einem kalten, trüben Tag erspähte er unverhofft durch dieses Loch seine tschechische Großmutter. Er rief, doch sie verschwand im Nebel. Er meinte zu sterben. Aber dann setzte er sich in Bewegung und rannte die Mauer entlang bis zur Pforte. Die Frau bog um die Ecke und schloß ihn in die Arme. Es war wirklich die Großmutter. Sie hatte die Adresse des Heims herausgefunden und war, krank und schwer, auf geschwollenen Füßen aus ihrem Dorf vom böhmischen Erzgebirgskamm herabgekommen, um den Enkel zu holen. Der Direktor verlangte Bescheinigungen, die sie nicht hatte, und dieses Gespräch war besonders lustvoll erzählt: Wie der Direktor zunächst herablassend, dann heuchlerisch freundlich, zuletzt schroff ablehnte, bis die Oma eine Teigrolle unterm Rock hervorzog und auf den Tisch hieb. Wieso hatte das geholfen? » Ach, Mächtige sind immer feige, je mächtiger sie sind, desto mehr.«
    Stimmt das? Und konnte ein Fünfjähriger es verstehen? Woher kam die Teigrolle? Symbol? Für was? Diese Fragen leiteten später Jakobs zornige Phase ein, doch in der Märchenfassung zieht er ganz selbstverständlich mit Oma auf die tschechische Seite des Gebirges, und das Buch wird zur Abenteuergeschichte: Sie fahren auf der Ladefläche eines Lasters hinauf ins kalte Oberwiesental, übernachten bei ängstlichen Leuten, dann geht es per Pferdefuhrwerk nach Gottesgab, von dort zu Fuß unter dem Kamm entlang gegen den Wind, harter Schnee wie Nadeln im Gesicht, Zähne taub, Kälte zerschneidet die Finger, er schreit. Oma hüllt ihn in ihren Schal. Es folgen einige Jahre in diesem Ort mit Schneestürmen, Hochmooren und Falkenschrei, wo der kleine Jakob das Spitzenklöppeln lernt, um seine Oma, die Handschuhnäherin, zu unterstützen.
    Am Schluß bringt die Oma das Kind zurück zur Mutter, die inzwischen aus dem Gefängnis entlassen wurde. In der Geschichte hat Oma Krebs und begreift, daß sie den Buben bald nicht mehr wird versorgen können. Sie liefert ihn bei der

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