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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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Ausstellungskatalog aus den siebziger Jahren, in dem eine Grafik von ihm sei. Er schlägt das Heft auf, die Seite segelt zu Boden, er birgt sie schwankend und stößt sie der zurückweichenden Frau unters Kinn. Sie beschwichtigt – wie höflich und einnehmend doch diese bürgerlichen Damen sind! Endlich geht der Kerl durch die Tür hinaus, kehrt zurück und gurgelt, geht und kommt nochmals gurgelnd und geht, wir sehen ihm ängstlich nach. » Es ist eine Tragödie«, hüstelt die Dame, » Der Mann hat sogar Abitur!«
    *
    In der Nähe der ehemaligen Grenze verdüstert sich mein Gemüt. Ich beschwöre die umständlichen Übertritte von früher herauf, meine Bangigkeit, die Euphorie; ich war mir meiner Privilegien bewußt und fürchtete doch immer, sie zu verlieren. Ich erinnere mich an die schäbigen Betonbauten auf unserer Seite, den tristen Konsum, in dem ich als Proviant Fünfzig-Gramm-Wurstdosen kaufte, bevor ich an den bunten Anlagen des Westens vorüberfuhr. Unsere strengen Grenzer, Kommandos: » Brille obnähmen!« Augenkontakt, Schäferhunde, endlose Schlangen. Heute sind die meisten Gebäude verschwunden, fast hätte ich die Grenze verpaßt, und das schmerzt mehr als ihr Anblick, dessen Unschädlichkeit ich auskosten will. Alles scheint verschluckt vom dunklen, dschungelhaft nassen Thüringer Wald. Fünfundvierzig Jahre Idealismus, Verrat und Paranoia verpufft wie ein Spuk.
    *
    Als ich von Schneeberg her über die Hügelkuppe vor Aue komme, reißt die Wolkendecke, der zerklüftete Kessel ist auf einmal erfüllt von Licht. Die Fabrikgebäude an den Hängen schimmern weiß, zwei Schornsteine, die aus dem Tal gen Himmel ragen, leuchten orangefarben auf. Schon rollt der Wagen ins Zentrum hinab, aber der Anblick bleibt hängen: meine düstere Stadt, mit diesen riesigen glühenden Ausrufezeichen eine fast mystische Szenerie. Unten spinnwebfeiner, silbriger Regen.
    Zwischen diesen Gründerzeitbauten bin ich aufgewachsen, in einem Fachwerkhaus im Hinterhof. Eine Durchfahrt mit geriffelten metallenen Radspuren, mehr Tunnel als Torbogen, führte unter dem Bürgerhaus hindurch. Unser Haus klebte an der Brandmauer. Im Erdgeschoß wohnte der Hausmeister, der nebenbei Schuhmacher war; zum ersten Stock führte eine Holzstiege. Mein Vater verließ das Haus morgens mit seiner ledernen Aktentasche. Er schlich durch Hof und Tunnel und tat einen langen Schritt auf die Straße. Dort im Licht streckte er sich, warf den Kopf in den Nacken und ließ die Selbstgewißheit eines Verführers in seine Züge fließen. Vater arbeitete als Vertreter. Ich habe diese Verwandlung nur einmal beobachtet und war doch sicher, daß sie jeden Tag stattfand; er wiederum, als sei sie ihm durch mich bewußt geworden, wußte meine Zeugenschaft fortan zu vermeiden.
    Mein Vater war ein verurteilter Betrüger. Alle anderen Männer der Familie – Großvater und Urgroßvater, Onkel und Vettern – waren Bergleute gewesen, die ihre Groschen zusammenlegten, damit er, der Begabte, eine höhere Schule besuchen konnte. Er studierte auch und wurde Lehrer, aber dann ließ er sich was zuschulden kommen und schied aus dem Staatsdienst aus. Von den Großeltern, die ein paar Kilometer weiter in Schlema wohnten, habe ich nie ein Wort des Vorwurfs gehört. Allerdings besuchte er sie nicht; nur mich schickte er hin. Ich schlenderte an der Mulde entlang oder trödelte übers Hohe Holz, eilig hatte ich es nie. Mein Großvater litt an der Staublunge, er keuchte, würgte und spuckte furchterregend. Manchmal übernachtete ich dort, und jedesmal rang er so laut, fast jaulend um Atem, daß ich entsetzt war. Ich schlief in der Küche auf der Bank und hörte durch die Wand alles, einmal auch seinen erstickten Schrei: » Hilfe!«, und dann das Schluchzen und die Küsse meiner Oma, die ihn trösten wollte. » Mein Armer!« rief sie, auf Sächsisch natürlich: » Mein Oarmer!« Am Morgen, als ich zermürbt in den Hof stolperte, kam er, die Nachthemdbrust gelbrot gesprenkelt, aus dem Klo und lächelte mir verlegen aufmunternd zu.
    Später sollte ich ihn auf einem Spaziergang begleiten. Er stützte sich mit der Rechten auf einen Stock und mit der Linken auf meine Schulter; ich war vielleicht neun und fürchtete mich. Aber dann wurde er ruhiger, wir gingen langsam, immer wieder verschnaufend, hinunter zu den Kuranlagen, durch die auch damals, ein Jahr vor Kriegsende, noch Kurgäste flanierten. Dort setzten wir uns auf eine Bank. Das Wetter war warm und diesig, etwas neblig sogar, doch

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