Dickner, Nicolas
haben alle Doucets aus Tête-à-la-Baleine das Licht der Welt erblickt und ihr Leben verbracht: Großvater und Großmutter, Großonkel, Großtanten, Cousins, Cousinen, Schwager und räudige Hunde. Dieser Zweig der Familie hatte die Piraterei aufgegeben, ohne sich jedoch stattdessen der Fischerei zuzuwenden. Diese Abwesenheit einer bestimmten Rolle hatte ihren Teil dazu beigetragen, sie von der übrigen Bevölkerung noch weiter zu isolieren.
Ohnehin wohnten die Doucets zu weit außerhalb des Dorfes, um nicht als verdächtig zu gelten. Die Draufgänger behaupteten, sie würden in dem windschiefen Haus ihre Mädchen treffen oder sich dort mit Schwarzgebranntem eindecken – denn selbst wenn Großvater Lyzandre in seinem Leben noch kein einziges Schiff geentert hatte, so hatte er sich zu Zeiten der Prohibition doch dem Schmuggel verschrieben. Das war vollends hinreichend, um das isoliert stehende Haus als Lasterhöhle, Spelunke und Ort der ewigen Verdammnis zu deklarieren.
Der Missachtung und des Getratsches überdrüssig, hegten viele Familienmitglieder den Gedanken, das Dorf zu verlassen. Der Exodus wurde im Juni 1960 von Lyzandres jüngstem Sohn, Jonas Doucet, in Gang gesetzt.
Dieser legendäre Onkel war im Alter von nicht einmal vierzehn Jahren den Fluss hinauf bis nach Montréal gewandert, wo er sich auf einem Frachter nach Madagaskar einschiffte – und ward nie wieder gesehen. Seine Familie erhielt von Zeit zu Zeit unleserliche Postkarten aus allen Häfen dieser Welt, die Großvater Lyzandre stolz an die Wände des Hauses heftete. Mitten im tiefsten Winter, wenn der Nordost über das Gestade hinwegfegte, waren die bunten Briefmarken aus Sumatra oder Havanna eine willkommene Abwechslung im täglichen Trott der Doucets und ließen sie in ihrer Küche sitzend gleichsam unter Heim- und Fernweh leiden.
Der Weggang von Onkel Jonas hatte unter den anderen Mitgliedern des Klans einen wahren Massenexodus verursacht. Im Zeitraum von nur zehn Jahren waren alle Doucets aus Tête-à-la-Baleine verschwunden. Die Alten waren gestorben, die Jungen fortgegangen, und bald blieben nichts als Geister, altes Gemunkel und ein windschiefes Haus auf dem Uferstrand mit einem einäugigen Großvater darin.
Joyce war also die letzte Doucet des Dorfes. Als würdige Nachfahrin ihrer Ahnen hatte sie eine einzelgängerische Wesensart entwickelt, die ihrem Gesicht eine vorzeitige und beunruhigende Reife verlieh. Sie schien stets mit dem Kopf woanders, in Gedanken verloren.
Obendrein litt sie an Klaustrophobie, einer zweifelsohne ganz natürlichen Problematik, wenn man einer Familie angehört, die kreuz und quer über den amerikanischen Norden verstreut war. Alles Beengende war ihr unerträglich – die Küche, die Schule, das Dorf, die Familie ihres Vaters – und nichts half dagegen besser, als die Flucht zu Großvater Lyzandres Piratengeschichten, seinem bitteren Tee, in dem windschiefen Haus, wo sie wieder die Ur-Ur-Enkelin von Herménégilde Doucette wurde. Jeden Abend verlangte sie nach der Geschichte eines neuen Piraten. In der verrauchten Küche defilierten alle Doucets der sieben Weltmeere in Begleitung von Samuel Bellamy, Edward Teach, Francis Drake, François L’Ollonois, Benjamin Hornigold, Stede Bonnet und anderen William Kidds.
Joyce mochte die Vorstellung, diese Piraten hätten damals in den Gefilden von Tête-à-la-Baleine ihr Unwesen getrieben, aber Großvater Lyzandre hatte sie schnell eines Besseren belehrt: Diese umtriebige Gattung bevorzugte die tropischen Breiten. So hatten sich die meisten von ihnen einen Sonnensitz in dem legendären Piratenversteck auf der Providence-Insel eingerichtet.
Dieser Ortsname beirrte Joyce: Jeden Sommer verbrachte sie auf der Île Providence und noch nie war ihr auch nur der kleinste Schlupfwinkel aufgefallen, nichts als die alten geschindelten Häuser voll mit polternden Onkels und Tanten.
Lyzandre Doucet erklärte, dass es sich um eine andere Providence-Insel handelte, nördlich der Insel Hispaniola in der Karibik. Sie lag in Wirklichkeit mitten in den Bahamas, aber zu viel Genauigkeit durfte man von Großvater Lyzandre nicht verlangen, dessen enzyklopädische Bildung aus alten Almanachen und Werbekalendern zusammengebastelt war. Wie dem auch sei, die Piraten hatten aus dieser Insel ein uneinnehmbares Nest gemacht, wo sie niemanden fürchteten. Sie hatten die Kontrolle über einen Hafen mit zwei Einfahrten, einfach zu verteidigen, in den schwergewichtige Kriegsschiffe wegen der
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