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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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Händen. Oben auf dem Zaun hat sie sich drei Finger aufgerissen. Auf der blutüberströmten Innenfläche ihrer Hand bilden Lebens- und Schicksalslinie ein scharlachrotes pi.
    Sie schnauft tief durch und flitzt in Richtung Straße davon. Fünf Stockwerke unter sich hört sie das Scheppern ihrer Stiefel aus den Tiefen des Lüftungssystems zurückschallen. Sie springt über ein Mäuerchen, landet in den Sumachpflanzen des Randstreifens, erreicht schließlich den Bürgersteig und stößt mit einem Obdachlosen zusammen, der einen Einkaufswagen voller Aluminiumdosen vor sich herschiebt.
    Der Obdachlose setzt sich seine Kappe der Toronto Maple Leafs wieder auf den Kopf, mustert Joyce vom Scheitel bis zur Sohle, sagt nichts, verzieht keine Miene, geht weiter seines Weges.
    Joyce macht sich in entgegengesetzter Richtung von dannen.
    Eine Stunde später sitzt sie im Bad auf den Kacheln, streicht sich Jod auf die Wunden und zieht ihre Schlüsse aus dem Abend: Sie muss besser auf tote Winkel achten, auf Überwachungskameras und auf Fluchtwege.
    Noch einmal Jod auftragen und kein Gejammer: Schon morgen Nacht wird sie wieder auf Fang gehen.
    Sie klebt die letzten Pflaster auf und schaut auf die Uhr. Viertel nach zwei in der Frühe. Sie muss jetzt schlafen, in wenigen Stunden steht sie schon wieder im Fischladen an der Theke.

Viele tausend Kilometer
    Die Uhr an der Mikrowelle zeigt vier Uhr morgens an. Noah, der zum ersten Mal in seinem Leben an Schlaflosigkeit leidet, entdeckt dieses neuartige Phänomen mit der innigen Erregung, die er seit seiner Ankunft in Montréal des öfteren verspürt.
    Er setzt sich an den Küchentisch und schreibt Sarah einen Brief.
    Sein erster kam gestern Nachmittag mit dem quer über den Umschlag gestempelten Vermerk unclaimed wieder zurück. Schlag ins Wasser. Ohne viel Aufsehens hat er den Brief ins Altpapier wandern lassen und sofort mit dem Verfassen eines neuen Kapitels aus seinem neuen Leben begonnen. Er erzählt, dass sein Zimmer viel zu groß ist, dass er jeden Tag Fisch isst und jede Nacht in Seesternen schläft, dass er mit Maelo Spanisch lernt und das Viertel am Steuer eines alten, umgebauten CCM erkundet.
    Noah endet damit, dass er seine Mutter einlädt, ihn besuchen zu kommen, sobald sie könne. Er lächelt bei der Vorstellung, wie ihr alter Wohnwagen längs am Marché Jean-Talon festmacht. Das Bild ist absurd, unwahrscheinlich.
    Bevor er den Umschlag zuklebt, liest er seinen Brief noch ein letztes Mal durch. Seine Schönschrift ist genau so unleserlich wie die von Jonas, doch was kann er dafür? Er verzieht das Gesicht, unterschreibt und breitet schließlich seine Straßenkarten auf dem Küchentisch aus. Und schon muss er sich wieder mit einem sehr alten Problem herumschlagen: Im Laufe der letzten fünf Wochen hat seine Mutter möglicherweise viele tausend Kilometer zurückgelegt, hat wieder kehrt gemacht, hat in Dutzenden von Dörfern Halt machen können. Wenn er es dieses Mal nicht schafft, sie zu orten, geht die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzufinden, fast gegen null.
    Besser er wendet seine neueste Methode an: Mit geschlossenen Augen kreist er über der Karte von Manitoba. Mit dem Zeigefinger harpuniert er ein kleines Dorf namens Notre-Dame-de-Lourdes. Er kritzelt die Adresse auf den Umschlag und denkt sich, dass man bei diesem Ortsnamen durchaus auf ein Wunder hoffen darf. Er faltet die Karten zusammen und geht den Brief einwerfen.
    Das Viertel schläft. Eine Handvoll schlafloser Marokkaner arbeitet auf dem Marché Jean-Talon an den Verkaufsständen. Noah läuft durch die ausgestorbenen Straßen, bis er in der Nähe des Parc Dante einen Briefkasten findet. Der Kasten ist fast leer und der Umschlag schlägt am Boden mit einem leisen Scheppern auf. Sehr behutsam schließt er den Deckel, um die irreale Stille des Viertels nicht zu stören.
    Von der Rue Saint-Laurent her sieht er den Himmel sich blau färben. Jetzt bloß schnell ins Bett. In wenigen Stunden erwarten ihn schon wieder neue Herausforderungen: der Kurs AR-10342, mit dem Titel Methodik für Studenten der Archäologie .

1990

William Kidd
    Oka-Krise, 37. Tag.
    Auf Anordnung von Robert Bourassa entfernen die Streitkräfte die Barrikaden in Kanesatake. Im Kiefernwald wimmelt es von Soldaten und Journalisten, und eine Handvoll Warriors hat sich in die Entgiftungsstation der Reserve zurückgezogen, wo sie dem weiteren Verlauf der Dinge harren. Die Lage ist konfus. Die internationalen Beobachter befürchten ein neues

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