Dickner, Nicolas
schmachvolle Leidenschaft. Ich hatte den Braten schon lange gerochen, tat jedoch, als hätte ich Tomaten auf den Augen. Es gibt Diebinnen, die man gerne um sich hat.
Um ihr freie Hand zu lassen, entschließe ich mich, ein bisschen die Giftkammer aufzuräumen.
Jeder Buchhändler hat irgendein aussichtsloses Projekt, das ihm besonders am Herzen liegt. Meines besteht darin, das dunkle Kabuff aufzuräumen, in das meine Vorgänger jahrzehntelang wild durcheinander alle unklassifizierbaren Bücher hineingestopft haben (und dann schnell wieder die Tür hinter sich zumachten aus Angst vor Steinschlag). Diese langjährige Sammlung wurde im Zuge von Verweigerung und Prokrastination das Es der Buchhandlung – ihr Unterbewusstsein, ihre dunkle Seite, ihre unvorzeigbare und wild-chaotische Kloake – in einem Wort: die Giftkammer.
Seit mittlerweile vier Jahren widme ich alle meine freie Zeit der Psychoanalyse dieses erstaunlichen Ortes, ein Unterfangen, das sich in Wahrheit darauf beschränkt, mir einen Weg durch die verschiedenen Schichten gepressten Papiers zu bahnen. Die Arbeit geht nur langsam voran, da ich mich hier nur betätigen kann, wenn die Buchhandlung menschenleer ist. Außerdem müssen die Erkundungen drei Monate im Jahr ruhen, von Juni bis August, da die dicke Schicht Mineralwolle, die diesen ehemaligen Kühlraum isoliert, die Atemluft unerträglich macht.
In die Tür wurde von unbekannter Hand die hochtrabende Warnung geritzt: Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.
Im Inneren riecht es nach abgestandener Luft und überhitztem Werg. Ich setze mich auf einen Stapel des Almanach du peuple und betrachte die Umgebung. Die Ausgrabungsstelle ist genau so, wie ich sie im letzten Mai verlassen habe. Ein kleines gelbes Lesezeichen markiert sogar noch den Stapel, bis zu dem ich gekommen war. Ich schaue mir die Buchrücken an. Typische Unklassierbare: ein Atlas der Walgeometrie , ein Katalog vertrauter Objekte und das Jahrbuch der Nachwuchsdichter aus Ungava .
Als ich den Stapel verschiebe, fällt mir ein Schwung Karten auf den Kopf, die aus alten Ausgaben des National Geographic stammen.
Während ich mir den Schädel kratze, schaue ich sie mir genauer an. Ich könnte sie natürlich alle wieder in die entsprechende Ausgabe einsortieren, aber das würde mehrere Tage in Anspruch nehmen – eine zweifelhafte Zeitinvestition, wenn man bedenkt, dass wir die National Geographic für 25 Sous das Stück verscherbeln und trotz dieses lächerlichen Preises in den letzten fünf Jahren kein einziges Exemplar verkauft haben. Ich falte die oberste Karte auseinander. Es handelt sich um eine stereografische Projektion der Karibik mit dem Titel Migration der Garifuna . Die Garifuna? Noch nie gehört. Offenbar sind sie ganz schön viel rumgekommen, wenn ich dem komplexen Netz aus Bewegungslinien trauen darf, die in Südamerika und Westafrika beginnen, auf St. Vincent und den Grenadinen verschmelzen, weiter nach Jamaika führen und sich schließlich, verstreut in unzähligen Umwegen, Schleifen und Sackgassen, in Mittelamerika verlieren.
Die junge Frau durchquert die Buchhandlung in umgekehrter Richtung, wobei das Knarren des Parkettbodens sie verrät. Mit meiner Karte der Garifuna in der Hand komme ich aus der Giftkammer gestiegen.
„Alles gefunden, was du brauchst?“
Sie schüttelt den Kopf mit einem schmalen zweideutigen Lächeln. Man unterschätzt den Röntgenblick der Buchhändler: Ich erkenne ein Handbuch über das Programmieren in C++, das sie in der Achsel unter ihrem alten Regenmantel versteckt hält, da wo es warm ist. Dieses Buch hat es wirklich gut.
Gerade will ich mit meiner Karte der Garifuna wieder in die Giftkammer abtauchen, als eine andere tollkühne Kundin aus dem Unwetter an meiner Diebin vorbei durch den Türrahmen hereingegeschwappt kommt. Sie schüttelt ihren Schirm und schaut sich um. Nach kurzem Zögern wirft sie ihren Schirm gegen das Regal mit den Bob Morane und kommt entschiedenen Schritts auf mich zu. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor – aber Stammkundin ist sie keine. Ehemalige Mitschülerin? Anonyme Bewohnerin aus der Nachbarschaft?
Sie grüßt mich mit einem kurzen Nicken und packt etwas auf den Tisch, das früher mal ein Buch gewesen sein muss.
„Ich suche eine gut erhaltene Ausgabe von diesem Buch hier.“
Sie hat einen komischen spanischen Akzent, spricht mit bestimmtem Ton. Wo habe ich sie nur schon gesehen? Ich wische mir die Hände an den Schenkeln ab, nehme das Buch und
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