Dickner, Nicolas
damit sie einander nicht begegneten. Sie hatten nichts, das sie miteinander verband, und die meisten von ihnen waren längst in die USA ausgewandert, als Ariznas Eltern 1976 unter ungeklärten Umständen in den Gewässern vor Trinidad den Tod fanden. Es wurde vermutet, dass es an Bord ihrer Jacht eine Explosion gegeben hatte, aber diese Hypothese konnte nie bekräftigt werden, vor allem nicht durch Ariznas Bericht, die damals erst drei Jahre alt war. Die einzige Überlebende des Unfalls hatte man am nächsten Tag, unter Schock, in einem halb aufgeblasenen Schlauchboot wiedergefunden.
Dieser mysteriöse Unfall setzte der ständigen Anwesenheit ihrer Familie in Südamerika ein Ende. Don Eduardo, der damals im venezolanischen Konsulat in New York beschäftigt war, holte Arizna umgehend zu sich und begann kurz darauf alle seine Immobilien abzustoßen – mit Ausnahme des Hauses in La Asunción.
Noah verspürt eine grenzenlose Faszination für dieses ehrwürdige Kolonialhaus. In seiner ganz und gar nordamerikanischen Naivität hat er die Vorstellung, Don Eduardo wolle eines Tages nach Margarita kommen, um hier zu sterben. In Wirklichkeit denkt der alte Mann nur selten an sein Ableben, schon gar nicht in Venezuela, und er hat keineswegs die Absicht, in dieses Haus zurückzukehren, das er nur behält, um von obskuren steuerlichen Vorteilen zu profitieren.
Montagmorgen, halb sieben, María schlüpft durch die kleine Hintertür, durchquert das Haus ohne ein Geräusch und nimmt, während sie das Wasser aufsetzt, die Küche in Beschlag. Das Zischen des Propans, das Ratschen des Feuerzeugs, das Klappern des Wasserkessels – Musik der alltäglichen Dinge.
Das Familienanwesen schuldet seinen Fortbestand allein der Anwesenheit dieser schwungvollen Insulanerin, die die Böden schrubbt, die Familienfotos abstaubt, die Teppiche ausklopft, das Geschirr scheuert, die beste Parrilla der Insel macht, allzu unternehmungslustige Touristen fernhält und die Luft mit ihrem unerschöpflichen Repertoire antillischer Lieder anreichert. Ohne sie würde dieses absurd große Haus in kürzester Zeit in Chaos und Traurigkeit versinken.
So wie jeden Morgen breitet sie eine große rote Tischdecke über den Tisch im Innenhof und stellt darauf die Teller, die Marmeladengläser und den Brotkorb.
Simón taucht gegen sieben Uhr auf, halb verschlafen, in ein altes, durchlöchertes Pokémon-T-Shirt gekleidet. María wünscht ihm einen guten Morgen und kämmt ihn mit autoritärer Hand. Er murrt, der Form halber, bringt seine Haare wieder in ihre gewohnte Unordnung und setzt sich gähnend vor seine Schale mit Frühstücksflocken.
Während María ihm einen Orangensaft eingießt, hebt er die Augen zum Himmel. Nicht eine Wolke in Sicht. Mit einem Summen taucht ein winziger, smaragdgrüner Kolibri auf, dreht eine Runde durch den Innenhof, von einer Pflanze zur nächsten, und verschwindet so schnell wieder, wie er gekommen war. Simón schaut suchend nach María, um in ihrer Entzückung das Echo seiner eigenen zu finden – aber sie ist zurück in die Küche gegangen, ohne etwas bemerkt zu haben.
Arizna kommt kurz darauf hinzu, geduscht, gekämmt und in einem makellosen Kostüm. Sie küsst ihren Sohn auf die Stirn und setzt sich, mit einem unhörbaren Seufzer der Entmutigung, vor den Batzen Zeitungen, der soeben frisch aus Caracas eingetroffen ist. Sie gießt sich einen Kaffee ein und beginnt mit der Lektüre des Meridiano , wobei sie mit kurzen, präzisen Bewegungen von Seite zu Seite blättert. Nach zehn Minuten schaut sie auf die Uhr, leert ihren Kaffee mit einem Schluck und geht nach oben, um ihr Gepäck zur Abreise fertig zu machen.
Als sie den Hof verlässt, trifft sie Noah, der barfuß und wie immer als Letzter zum Tisch geschlurft kommt. Ohne ihm überhaupt die Zeit zu lassen, sich hinzusetzen, erzählt Simón ihm in aller Eile, dass ein so großer Kolibri (er umreißt ein Flügeltier von einem Sechzehntel Gramm) am Bananenbaum Nektar getrunken habe.
„ ¿Es cierto? “, fragt Noah und tut so erstaunt wie er kann.
„Woher kommen denn die Kolibris?“
„Keine Ahnung. Aus dem Nachbargarten?“
„ ¡No! “, protestiert Simón. „Kommen sie auch von den Affen?“
Mit einem viereinhalbjährigen Kind zusammenzuwohnen gestattet es Noah, ungeahnte Fähigkeiten zu entwickeln. Er entdeckt sein Talent als Erfinder von Geschichten, die weder Hand noch Fuß haben. Gestern Abend, als Simón nach einer Geschichte zum Einschlafen verlangte,
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