Dickner, Nicolas
improvisierte er ihm das erste Kapitel aus Charles Darwins wunderbaren Abenteuern auf den Galápagos-Inseln – einem evolutionistischen Reisebericht voll mit Riesenschildkröten, sagenhaften Bauchfüßlern und „unseren Vettern den Affen“. Simóns Gehirn ist kein einziges Detail der Geschichte entgangen.
Während sich Noah einen Kaffee einschenkt, erklärt er, dass die Kolibris selbstverständlich vom Diplodocus abstammen . . .
„. . . und das Hähnchen, das wir gestern Abend gegessen haben, das war der Ur-Ur-Ur-Enkel von einem Tyrannosaurus Rex .“
Simón bricht in Lachen aus: Dieser eigenartige Stammbaum gefällt ihm. Man müsste ihn jetzt mit Büchern zu dieser Frage versorgen. Kauend fragt sich Noah, ob irgendwo auf diesem Planeten ein Verleger möglicherweise daran gedacht hat, ein gutes Kinderbuch über Dinosaurier und Kolibris zu machen. Bald wird Simón lesen können, und Noah hat nicht die Absicht, ihn seine ersten Worte auf alten Landkarten entziffern zu lassen.
Arizna kommt wieder in den Hof herunter, mit gerunzelter Stirn und einer Reisetasche über der Schulter. Sie wirkt erschöpft, auch wenn es erst früh am Morgen ist. Man muss sagen, dass trotz schwieriger Anfänge – und dank der Finanzierung von Don Eduardo – es das Verlagshaus Tortuga geschafft hat, zu wachsen und zu gedeihen, ein Erfolg, durch den sich Ariznas Verantwortlichkeiten vervielfacht haben. Sie ist von nun an Leiterin und PR-Frau des Editorial Tortuga , Chefredakteurin der vierteljährlichen Zeitschrift El Pututo , Veranstalterin von Konferenzen, Wissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Instituto Indigenista Autónomo (Posten, die nebenbei Reisen nach Ecuador, Bolivien und Peru mit sich bringen, um dort andere Wissenschaftler aus der indianischen Forschung zu treffen) – ganz abgesehen von der Abfassung, zu nachtschlafender Zeit, eines Manuskripts über die Geschichte der weiblichen Eingeborenen in Südamerika zwischen 1492 und 1992.
Sie durchquert den Innenhof, beugt sich zu Simón hinunter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Das Kind lächelt und nickt eifrig, während es kleine Krater in seine Frühstücksflocken bohrt. Arizna gibt ihm einen Kuss und verschwindet in Richtung Ausgang. Noah begleitet sie mit seinem Kaffee in der Hand.
„Wann kommst du eigentlich wieder?“
„Morgen Abend. Falls etwas ist, kannst du mich auf dem Handy erreichen.“
Sie durchquert den Garten, schiebt das Tor auf und tritt auf den Gehsteig. Ein Taxi kommt vorbei, das sie mit gebieterischem Winken anhält. Reifenknirschen, Hagel auf rostiges Blech. Arizna beugt sich zum Fenster und verhandelt den Fahrpreis zum Flughafen. Der Chauffeur entrüstet sich der Form halber und akzeptiert dann mit einer kleinen Handbewegung. Arizna öffnet die Tür, wirft ihre Tasche ins Innere und zeigt Noah gespielt streng den Zeigefinger.
„Pass gut auf Simón auf!“
Noah verbeugt sich in einer Art komischer Verneigung. Einen Augenblick später verschwindet das Taxi in einer Wolke verbrannten Öls.
Das betrübliche Epos der Garifuna
Zu allen Zeiten schon war die Vaterschaft ein schwer greifbares Konzept. Im Gegensatz zur Mutterschaft, die sich durch die spektakuläre Natur der Schwangerschaft de facto legitimiert, mangelt es der Vaterschaft an Greifbarkeit. Kein Augenzeuge kann zugunsten des Erzeugers aussagen, keine Geburt ist Beweis seiner Verbindung zum Kind. Der Status des Vaters bekam erst durch das Aufkommen der DNS-Tests festen Boden unter die Füße, ein, im Ganzen betrachtet, wenig glorreiches Eingeständnis, da der Erzeuger, der sich dieses sozusagen juristischen Mittels bedienen muss, damit seine Unfähigkeit erklärt, seinen Status über die traditionelle Diplomatie anerkennen zu lassen. Durch das Wedeln mit den Untersuchungsergebnissen untermauert er die biologische, opfert im gleichen Zuge aber die soziale Vaterschaft.
Aus diesem Grund hat Noah nie versucht, Simóns Vaterschaft an sich zu reißen: dem marktschreierischen Materialismus der DNS hätte er ein kurzes Bekenntnis Ariznas vorgezogen. Diese aber, auch nach mannigfachem Fragen in dieser Hinsicht, verneinte, leugnete und stritt wiederholt jedwede Beteiligung chipeweyanischer Gameten bei der Empfängnis ihres Sohnes ab. „Simon ist 100 % venezolanisch!“, bekräftigte sie mit Nachdruck. Die Augen des Kindes widerlegten diese Bekräftigung auf spektakuläre Weise, aber Noah wollte lieber nicht zu sehr insistieren: Arizna bestand auf dieser komischen Unabhängigkeit und das hatte er
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