Die 10. Symphonie
entgegen.
Das gro ße Dachgeschoss lag zwar im Dunkeln, doch die Jalousie an einem der schrägen Fenster war ein wenig hochgezogen und ließ etwas Licht herein. Mitten im Raum waren die Umrisse eines großen Gegenstands auszumachen. Daniel musste sich nicht besonders anstrengen, um zu erkennen, was es war, denn die Richterin hatte bereits das Neonlicht angeschaltet.
»Und hier ist sie«, sagte sie, ihr halbes Lächeln auf den Lippen. »Unsere Freundin, die Guillotine.«
59
In diesem Augenblick erhielt Daniel einen gewaltigen Schlag auf den Hinterkopf. Als er nach ein paar Minuten das Bewusstsein wiedererlangte, sah er als Erstes ungef ähr zweieinhalb Meter über sich das dreieckige Fallbeil der Guillotine. Seine Angreifer hatten ihn mit dem Gesicht nach oben auf dem Brett positioniert, so dass er gezwungen war, die scharfe Schneide unentwegt anzusehen, die ihm jeden Moment den Kopf abtrennen konnte. Er hörte Schritte hinter sich. Dann erschien in seinem Blickfeld die unverwechselbare Gestalt des Gerichtsmediziners, und er erkannte dessen weiße Haarsträhne, die ihn schon immer an ein Stinktier erinnert hatte. Pontones beugte sich so über ihn, dass seine kleinen Zähne, spitz und gelb, für Daniel in der oberen Gesichtshälfte zu sehen waren und die buschigen Augenbrauen unten, die in dieser Position wie dichte, finstere Wimpern wirkten. »Du hast etwas geblutet«, sagte der Gerichtsmediziner. »Mir ist ein wenig die Hand ausgerutscht, ich geb's zu, aber keine Sorge, ich hab die Wunde ordentlich behandelt.« Daniel wollte die Wunde am Hinterkopf ertasten, aber er konnte die Hand nicht heben: Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt.
»Na, wie gefällt dir unser Modell?«, fuhr Pontones fort und tätschelte den Rahmen der Guillotine. »Ich habe sie selbst gebaut - mit meiner eigenen H ände Arbeit. Sie ist baugleich mit der im Donkmeer-Museum in Belgien.« »Was soll das? Warum haltet ihr mich hier fest?«, fragte Daniel. Sein Mund war so trocken, dass er kaum einen Ton herausbrachte.
»Was das soll?«, echote der Gerichtsmediziner und unterdrückte ein Lachen. »Der Herr möchte wissen, was das soll? Ich werde dir sagen, was das soll - wenn du uns die Zahlen lieferst, die wir brauchen.«
»Mateos hatte also recht! Dabei ... dabei hat er doch bloß ein paar alte Briefe gefunden. Ich hielt das Ganze für dermaßen albern, dass ich dachte, er wäre verrückt geworden, und beschloss, die Sache Dona Susana anzuvertrauen. Wo ist die überhaupt? Ich will auf der Stelle mit ihr sprechen!«
Noch bevor sie etwas sagte, wusste Daniel, dass sie sich im Raum befand: In der kurzen Stille nach seiner Forderung h örte er, wie sie den Rauch ihrer Zigarette ausstieß. »Ich bin hier, Daniel. Hör Felipe zu, hör dir sein Angebot an.«
»Nein, ich will nicht mit ihm sprechen, sondern mit dir. Du musst dich noch heute Abend der Polizei stellen, ihr beide müsst euch stellen. Die Strafe wird viel geringer ausfallen, wenn ihr nicht wartet, bis Inspector Mateos euch festnimmt.«
»Der arme Mateos«, sagte Pontones, »kann uns gar nicht festnehmen. Wie du schon gesagt hast, hat er nur ein paar lächerliche alte Liebesbriefe in der Hand. Und was beweisen die schon? Dass Susana Thomas gekannt hat? Absolut beweiskräftig ...«
»Nein, es sind nicht nur die Briefe. Mateos hatte euch schon im Verdacht, seit ihm klarwurde, wie nachlässig ihr die Ermittlungen gef ührt habt. Ihr habt keine Telefonüberwachung zugelassen. Ihr habt nicht zugelassen, dass Marañóns Keller durchsucht wird, obwohl er in seiner Sammlung eine Guillotine hat. Es wirkte die ganze Zeit so, als hättet ihr gar kein Interesse daran, den Schuldigen zu finden.«
»Na komm, Daniel. Wenn dir das alles so verdächtig vorkam - warum hast du dann Susana angerufen, um es ihr zu erzählen? Du selbst hast gesagt, dass dir Mateos' Verdacht absurd erschien. Und da ist noch etwas, das du nicht wissen kannst: Unser Inspector macht allen Gerichten nur Probleme. Überall ist bekannt, dass ihn seine Abneigung gegen die Richter antreibt. Wer sollte ihm also nun diese Geschichte glauben?«
»Wir haben darüber nachgedacht, Marañón die Schuld in die Schuhe zu schieben«, sagte die Richterin. »Aber Felipe musste erst noch eine Möglichkeit finden, ihn zu belasten.«
Der Gerichtsmediziner war f ür einen Augenblick aus Daniels Blickfeld verschwunden und tauchte nun wieder auf. »Marañón hat uns sehr geärgert: Indem er seine Guillotine nach Paris geschickt hat,
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