Die 10. Symphonie
kamen sie an, um ihn mit allerlei Leckereien in Versuchung zu führen. Gastronomische Köstlichkeiten, die Daniel vermutlich nie wieder in seinem Leben vorgesetzt bekommen würde. »Der Herr vielleicht noch ein Lauchkanapee mit Thunfischtatar und Feigenchutney?« »Gerne, vielen Dank.«
Und er verzog sich wie ein hungriger streunender Hund in eine Ecke, um es zu verschlingen, besch ämt, weil er der Einzige war, der mit niemandem sprach, dafür aber aß und aß und aß.
Seine Qual hatte ein Ende, als Jesus Marañóns sich oben auf die Steintreppe stellte, die in seine eindrucksvolle Residenz führte, und um Aufmerksamkeit bat. An seiner Seite, etwas hinter ihm, stand ein Mann mit kurzen weißen Haaren, einer griechisch geschnittenen Nase und einer runden Brille mit Metallgestell. Es war Ronald Thomas, der Mann, der die Kühnheit besessen hatte, Beethoven zu rekonstruieren. Er schaute zufrieden von oben auf die Anwesenden, grüßte gelegentlich irgendeinen Gast oder zwinkerte einem zu. Er schien jeden zu kennen. Nachdem Marañón sich vergewissert hatte, dass alle ihm Gehör schenkten, begann er mit großer Feierlichkeit: »Ich möchte euch danken, dass ihr trotz der so kurzfristig verschickten Einladungen den Weg hierhergefunden habt. Wegen Ronald Thomas' zahlreicher internationaler Verpflichtungen war es lange Zeit in der Schwebe, ob dieses Ereignis überhaupt stattfinden würde. Es erschien mir zu gewagt, eure Anwesenheit zu erbitten, bevor dieser geniale Musiker nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verf ügbar war, wie man so sagt. Schlussendlich konnten wir das Wunder vollbringen und werden nun in wenigen Minuten Zeugen eines nie dagewesenen künstlerischen Ereignisses sein. Erlaubt mir, euch den Anlass in Erinnerung zu rufen, aus dem wir hier versammelt sind: Wir haben das Privileg, zum ersten Mal in der Geschichte und dank der außergewöhnlichen Beharrlichkeit und des Talents dieses Mannes hier den ersten Satz von Beethovens zehnter Symphonie zu hören. Ja, Ronald?« Der mit den Lobreden seines Mäzens sichtlich zufriedene Thomas hatte ihm mit der Hand ein Zeichen gegeben. Als Marañón ihn ansprach, trat er zwei Schritte näher an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Ronald möchte seine Gastgeber der südlichen Hemisphäre nicht vor den Kopf stoßen und bittet mich klarzustellen, dass dies nicht das erste, sondern bereits das zweite Mal in der Geschichte ist, dass die Zehnte öffentlich gespielt wird. Das erste Mal fand vor einem knappen Monat im Konzertsaal des Musikinstituts der Universität von Otago statt, wo er, wie ihr alle wisst, seine Meisterkurse gibt. Nun, liebe Musikfreundinnen und -freunde, möchte ich jedoch auch nicht unerwähnt lassen, dass jene vermeintliche Weltpremiere der zehnten Symphonie erstens in Neuseeland stattfand, das am anderen Ende der Welt liegt, fast 20000 Kilometer von hier entfernt, und somit für uns gar nicht wirklich existiert. Und zweitens, was noch wichtiger ist, spielte Thomas dort eine bloße Bearbeitung der Symphonie für Klavier, die Musiker sagen Klavierauszug. Obendrein war das Klavier verstimmt, wie man mir erzählte!«
Thomas nickte best ätigend mit dem Kopf, als Marañóns fortfuhr:
»Und heute Abend werden wir also von diesem in Neuseeland lebenden, aber aus Großbritannien stammenden Meister eine orchestrierte Fassung des ersten Satzes der Symphonie hören. Das Fragment ist nicht viel länger als fünfzehn Minuten. Danach könnt ihr entscheiden, ob ihr die Veranstaltung damit enden lassen möchtet - was könnte nach Beethoven noch kommen? - oder ob ihr euch weiter hier im Garten vergnügen wollt, mit einer ganz anderen Art der Unterhaltung - unendlich viel leichter, aber genauso respektabel wie jene erste.« Marañón zeigte dorthin, wo eine Salsa-Band ihre Mikrophone und Instrumente für die Tanzveranstaltung aufbaute, die auf das Konzert folgen würde. »Macht euch keine Sorgen wegen der Hitze. Drinnen haben wir eine topmoderne Klimaanlage, wir werden uns also fühlen wie im Himmel. Ach ja, eine letzte, aber sehr wichtige Sache noch: Diejenigen, die sich hier auskennen, wissen, dass die Iphigenie zwar keine Hütte, aber auch keine Konzerthalle ist; hier bekomme ich keine achtzig Musiker hinein. Aber auch die Salons des Fürsten Lobkowitz, eines von Beethovens Mäzenen, wo zum Beispiel die Eroica zum ersten Mal aufgeführt wurde, fassten nicht so viele Musiker. Zu jener Zeit passte man die Größe des Orchesters an die des
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