Die 10. Symphonie
Prinz Lichnowsky, der die Experimente des talentierten jungen Musikers nicht nur duldete, sondern ihn sogar dazu ermunterte. An den musikalischen Soireen, ähnlich der, die Marañón in seinem Haus zur Uraufführung der Zehnten organisiert hatte, nahmen wahre musikalische Feinschmecker mit großem Fachwissen teil. Sie waren begierig, ein Repertoire zu hören, das sich von dem unterschied, was dem Pöbel in den öffentlichen Konzerten, den sogenannten Akademien, geboten wurde.
Wenn Daniel seinen Studenten erkl ären wollte, was die gefeierten Veranstaltungen im Palast von Lichnowsky für die abendländische Musik bedeuteten, griff er zum Beispiel des Privatfernsehens.
»Diese tollen Serien, die ihr so gerne seht«, pflegte er in seinen Seminaren zu sagen, »von denen ihr ganze Staffeln auf DVD kauft, wurden von der amerikanischen Produktionsfirma HBO, Home Box Office, erfunden. Da diese nicht so sehr dem Druck von Anzeigenkunden unterworfen ist und die Programme von einem kaufkräftigeren, gebildeteren Publikum konsumiert werden, konnten die Produzenten ohne Scheu und Rücksicht auf Political Correctness Dramen voller Sex, Gewalt und Drogen zeigen, in denen auch die Sprache expliziter war als bei den kon ventionellen Sendern. Sex and the City, Die Sopranos, Six Feet Under ... all dies war nur m öglich, weil die Produzenten mit Sympathie und Unterstützung der Fernsehfürsten rechnen konnten, die sie dazu anregten, die herkömmlichen Grenzen des Mediums zu erweitern oder zu überschreiten. Genauso war es bei Beethoven: Ohne die musikalische Entsprechung zu HBO, sprich die Paläste seiner Wiener Gönner, hätte Beethoven, als er in der kaiserlichen Stadt lebte, seine kühnen klanglichen, melodischen und rhythmischen Ideen niemals verwirklichen können.«
Diese K ühnheiten waren es, die Beethoven zu Beethoven machten. Und sie glaubte Daniel in dem Fragment der Symphonie entdeckt zu haben, das er im Hause Marañón gehört hatte.
Er musste an eine Aufnahme des Konzerts gelangen, kostete es, was es wollte.
32
Dona Susana Rodrfguez Lanchas hatte die feste Angewohnheit, morgens beim Verlassen des Hauses den Briefkasten zu öffnen, alle Briefe herauszunehmen und sie in die Handtasche zu stecken, um sie dann später in ihrem Büro am Gericht zu lesen. Sie hatte im Laufe ihres Arbeitstages immer mal wieder kurze Pausen, in denen sie das in Ruhe erledigen konnte.
An jenem Morgen war unter den Umschl ägen einer von ihrer Bank. Als sie ihn öffnete, befand sich darin jedoch kein Kontoauszug, sondern ein anonymer Brief, verfasst nach der althergebrachten Methode, aus einer Zeitung ausgeschnittene Wörter auf ein Blatt zu kleben. Der Text lautete:
Lass Cacabelos frei Du Schlampe oder
WIR BRINGEN DlCH UM
Anxo Cacabelos war der Hauptangeklagte in einem verwickelten, seit Monaten laufenden Verfahren wegen Drogenhandels, das die Richterin leitete. Die Verteidigung dieses galizischen Drogenbosses, mit einem dubiosen Strafverteidiger an der Spitze - zu allem f ähig, solange es ihm die Aufmerksamkeit der Medien einbrachte -, hatte seine Freilassung gegen Kaution beantragt.
Dies war von der Richterin bereits mehrmals wegen Flucht- und R ückfallgefahr abgelehnt worden. Dona Susana hatte zwar schon von einigen Kollegen gehört, die in ihrer Laufbahn irgendwann einmal von Angehörigen oder Freunden eines Angeklagten bedroht worden waren, doch für sie selbst war dieser anonyme Brief die Feuertaufe. Beim Lesen begann ihr Herz zu rasen, und sie bekam Atemnot.
Sie stand auf, öffnete das Fenster und sog tief die frische Luft ein. Da hörte sie, wie in ihrem Rücken die Tür geöffnet wurde und jemand das Büro betrat. Sie erschrak aufs Neue. Es war jedoch nur der Gerichtsmediziner Felipe Pontones - der Einzige, der ihr so vertraut war, dass er das Allerheiligste der Richterin betreten durfte, ohne vorher zu klopfen.
So sehr sie auch versuchte, sich zu beherrschen - als sie sich zur Begr üßung nach dem Mediziner umwandte, sah er ihr an, dass sie völlig aus der Fassung war. »Was ist los, Susana?«
Die Richterin antwortete nicht, sondern deutete nur mit dem Kopf in Richtung Tisch, auf dem das Schreiben lag. Der Gerichtsmediziner griff danach, hielt jedoch inne, bevor er es ber ührte. Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke, um damit das Blatt so zu drehen, dass er den Text besser lesen konnte. »Wann hast du das bekommen?«, fragte er ernst. »Ich habe es gerade geöffnet. Ich dachte, es wäre ein Brief
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