Die 10. Symphonie
nichts von Daniel gehört. Doch sie war weit davon entfernt, sich zu ärgern, weil sie erst einmal ihre Gedanken ordnen und die Fassung zurückgewinnen musste, bevor sie wieder mit ihm sprach.
Sie war derart durcheinander, dass sie überlegte, ob sie sich Hilfe bei einem Therapeuten holen sollte. Doch am Ende beschloss sie, es würde genügen, wenn ihre Freundin Marie-Christine, die immer mehr zur Vertrauten wurde, ihr in dieser schwierigen Zeit zur Seite stand. Während ihres kurzen Aufenthalts in Madrid hatte Alicia Daniel absichtlich verschwiegen, dass ihre Schweizer Freundin ein besonderes Porträt von ihr anfertigte, nämlich einen Ganzkörperakt. Das Bild sollte ein Geburtstagsgeschenk für Daniel werden.
Die Sitzungen fanden bei der Malerin zu Hause statt - in einer ger äumigen Maisonettewohnung mit großen Fenstern im Obergeschoss, durch die das Licht hereinströmte. Bei diesen Sitzungen, die in unregelmäßigen Abständen stattfanden, da es für keine von beiden einen Grund zur Eile gab, unterhielten sie sich über Gott und die Welt. Nun allerdings ging es verständlicherweise nur noch um eines: Sie redeten schon beinahe eine Stunde lang über Daniel, Opernhighlights im Hintergrund.
»Weißt du was?«, sagte Marie-Christine und mischte auf ihrer Palette die zwei Farben, mit denen sie die beeindruckende Lockenpracht ihrer Freundin wiedergeben wollte. «Normalerweise würde ich ein Bild wie dieses alla prima malen, aber ich unterhalte mich so gerne mit dir, dass ich beschlossen habe, es diesmal anders zu machen.« »Alla prima?«, wiederholte Alicia und machte eine unwillkürliche Bewegung. Mit einem Handzeichen forderte ihre Freundin sie auf, wieder die ursprüngliche Haltung einzunehmen.
»Das ist die Technik von Landschaftsmalern. Van Gogh zum Beispiel malte ein Werk fast immer in einer einzigen Sitzung und mit vielen schnellen Pinselstrichen. Das Gemälde wirkt auf diese Weise inspirierter und spontaner, weil man den Pinsel zügig und ohne viel nachzudenken führen muss. Ich erziele damit auch bei Porträts weitaus bessere Resultate als mit sorgfältiger ausgearbeiteten Studiobildern. Außerdem ist es natürlich viel erträglicher für das Modell.«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Es kommt mir sehr gelegen, dass ich bei diesen Sitzungen mein Herz ausschütten kann.«
Die beiden Freundinnen schwiegen einen Augenblick, um Maria Callas zuzuh ören, wie sie die Cabaletta aus La Traviata sang:
Sempre libera degg'io Folleggiar di gioia in gioia, Vo' che scorra il viver mio
Pei sentieri del piacer.
Von Verdis Musik gewiegt, vermochte Alicia zum ersten Mal, seit sie zornig aus dem Restaurant in Madrid marschiert war, ohne Groll und voll Z ärtlichkeit an Daniel zu denken. Sie erinnerte sich, wie er ihr an dem Abend ihres Kennenlernens erklärt hatte, weshalb die Cabalettas so genannt wurden: Im Gegensatz zur Arie wird der Sänger hier vom Orchester in einem Rhythmus begleitet, der dem Galopp eines Pferdes ähnelt.
Marie-Christines Stimme riss sie aus ihren Gedanken: »Wenn ich du wäre, würde ich das Thema Kind folgendermaßen angehen: Gäbe es Daniel nicht - würdest du dich trotzdem für das Kind entscheiden?« »Was willst du damit sagen?«, fragte Alicia erschrocken. »Daniel ist doch da, wir sind jetzt schon seit drei Jahren zusammen.«
»Ja, aber du solltest diese Möglichkeit mit einbeziehen -bitte nicht bewegen -, damit du nicht im Fall einer längeren Krise oder gar einer Trennung auf einmal in einem fremden Land und mit einem Kind dasitzt, das du vor allem bekommen hast, um deinen Freund zufriedenzustellen.«
»Jedenfalls werde ich die Schwangerschaft ganz sicher nicht abbrechen, ohne es Daniel vorher zu sagen.« »Wirst du ihn anrufen?«
»Ich finde, jetzt ist er dran. Wenn er allerdings in einer Woche noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, bleibt mir nichts anderes übrig, schließlich muss ich eine Entscheidung treffen.«
»Nimm das Haar ein wenig aus dem Gesicht, bitte. Glaubst du denn, dass er anruft?«
»Keine Ahnung. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, war er mit den Gedanken ganz woanders.«
»Wie läuft es mit seinem Buch über Beethoven?« »Selbst dieses Buch, das ihn so beschäftigt hat, ist in den Hintergrund getreten. Ihn interessiert nur noch das Manuskript der zehnten Symphonie und die Lösung dieses musikalischen Rätsels im Fall Thomas.« »Ah, ja, das habe ich in der Zeitung gelesen. Sie wissen immer noch nicht, wer es war, oder?« Marie-Christine
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