Die 10. Symphonie
dieses Intervall als diabolus in musica bekannt, denn man glaubte, es besitze die Kraft, den Teufel heraufzubeschwören.
In einer alten Abhandlung über Musik hatte Daniel gelesen, dass Sänger, die man beim Singen dieses Intervalls ertappte, manchmal gefoltert oder sogar auf den Scheiterhaufen geworfen wurden. Für andere Gelehrte hatte das Intervall einen starken sexuellen Beiklang, was die kirchlichen Autoritäten natürlich zutiefst empörte und dazu führte, dass es in der Kirchenmusik nicht mehr verwendet werden durfte. Möglicherweise war dies der Grund, weshalb Jahrhunderte später Leonard Bernstein den Tritonus als Star-Intervall seines Musicals West Side Story benutzte. Hier sollte es die unwiderstehliche Anziehungskraft zwischen Tony und Maria darstellen: Ma-RIIIIII-a. I-JUST met a girl named Maria. Der Tritonus war hier das Intervall, das die ersten beiden Silben des Namens der Hauptfigur trennte. Auf der dritten Silbe wurde es dann in eine reine Quinte aufgelöst - als erfüllte sich Tonys tiefes Sehnen mit diesem letzten Seufzer. Daniel dachte, dass der Tritonus auch heute noch eine unwillk ürliche Anspannung in den Menschen hervorrief -als wäre er der Vorbote von etwas Unheilvollem. Daniel merkte, wie seine Gedanken von Beethoven und der Melodie auf dem Bild abschweiften. Er musste versuchen, eine Verbindung zwischen dem diabolus in musica auf dem Notenblatt und einer Begebenheit aus Beethovens Biographie herzustellen.
Pl ötzlich kamen ihm die Illuminaten in den Sinn. Beethoven hatte offen mit dieser Geheimgesellschaft sympathisiert. Im Gegensatz zu den Freimaurern, denen zum Beispiel Mozart angehört hatte, verlangten sie von ihren Mitgliedern nicht, an ein höheres Wesen zu glauben. Dies brachte es mit sich, dass sich in der Sekte der Illuminaten eine beträchtliche Anzahl von Agnostikern und Atheisten sammelte. Dies wiederum verlieh dem Geheimbund ein klares antiklerikales Profil. So waren die katholische Kirche und die großen europäischen Monarchen, die behaupteten, ihre irdische Macht von Gott dem Allmächtigen erhalten zu haben, Widersacher der Illuminaten. Die erbitterten Gegner dieses Geheimbunds setzten in Umlauf, dass seine Mitglieder die Französische Revolution unterstützt oder sogar mit den Jakobinern zusammen geplant hätten. Selbst bei der russischen Revolution 1917 hätten sie ihre schmutzigen Finger im Spiel gehabt. Und jüngst, im Jahr 1983, hatte der damalige Kardinal Ratzinger, der heutige Papst, in einem von der Kongregation der Glaubenslehre veröffentlichten Dokument deutlich gemacht, dass Rom auch mitten im 20. Jahrhundert noch die Aktivitäten solcher Geheimgesellschaften wie der Freimaurer und Illuminaten mit Abscheu betrachte. War Beethoven als Folge der sich häufenden Zusammenstöße mit der kaiserlichen Macht in Wien von einem bloßen Sympathisanten der Illuminaten zu einem aktiven Mitglied geworden? Hatte er womöglich, ähnlich wie der Freimaurer Mozart für seine Loge, Musik zur Feier besonderer Anlässe für sie komponiert? Konnte es nicht sein, dass er wegen der antiklerikalen Ausrichtung des Ordens den diabolus in musica, das seit dem Mittelalter vom Heiligen Vater verbotene Intervall, als Symbol eingesetzt hatte?
Nach all diesen Überlegungen fragte Daniel sich schließlich, ob die Sekte der Illuminaten, die noch immer in vielen Ländern aktiv war, etwas mit dem grausigen Mord an Thomas zu tun haben konnte.
36
Inspector Mateos hatte schon so lange in derselben Haltung dagesessen - die überkreuzten Beine auf dem Schreibtisch und die Arme hinter dem Kopf verschränkt -, dass es Subinspector Aguilar reizte, ihm eine Münze hinzuwerfen. Vielleicht würde er ja dann wie diese lebenden Statuen die Stellung wechseln. Doch letztlich fragte er nur: »Kaffee, Chef?«
Mateos schien ihn nicht geh ört zu haben, so sehr war er darin vertieft, Ordnung in die Informationen über den Fall Thomas zu bringen, die sich in seinem Kopf auftürmten. Die Frage erfüllte dennoch dieselbe Funktion wie eine Münze: Kaum war sie gestellt, veränderte Mateos seine Haltung und nahm die Füße vom Tisch. »Ja, mit Zucker bitte.« »Mit Zucker? Wirklich?«
»Ja, wirklich. Wenn ich so viel grübeln muss, brauche ich welchen. Das Gehirn ist unser gierigstes Organ, Aguilar. Es verschlingt sechzig Prozent des Zuckers, den das Blut transportiert, an die 450 Kalorien pro Tag!« »Dann bringe ich dir zwei Beutel mit.« »Man muss es ja nicht gleich übertreiben.« Ein paar Minuten später
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