Die 10. Symphonie
komme gleich. Ist Felipe auch da?« Als ob die bloße Nennung seines Namens genügte, ihn herbeizuzaubern, stand der Gerichtsmediziner in der Tür. »Hier bin ich«, antwortete er.
Wie selbstverst ändlich betrat er das Büro der Richterin und holte einige Papiere aus seiner Aktentasche. »Gute Nachrichten über diesen Toten im Cacabelos-Fall: Bei der Autopsie heute Morgen habe ich keine Stiche von Wespen oder anderen Insekten gefunden, das bedeutet, der anaphylaktische Schock wurde gezielt hervorgerufen. Wie sieht es aus, Susana, gehen wir zusammen essen?« »Ja, aber so spät wie möglich. Ich muss zuerst noch einen Gefangenen entlassen und dafür überhaupt erst einmal die Anweisung schreiben. Ich spreche übrigens gerade mit Daniel über den Fall Thomas. Es gibt Neuigkeiten.« Daniel und Pontones gaben sich die Hand, und der Gerichtsmediziner setzte sich auf einen freien Stuhl. »Dann bleibe ich. Wenn man es genau nimmt, habe ich von uns dreien die engste Beziehung zu Thomas, nicht wahr, die geht unter die Haut, quasi.« Die Richterin sah ihn missbilligend an, sagte aber nichts. »Paniagua ist immer mehr davon überzeugt, dass die zehnte Symphonie existiert und dass die codierten Zahlen der Tätowierung uns auf ihre Spur bringen.« »Das ist ja großartig, Susana! Und Sie, mein Lieber, haben sich eigentlich eine Polizeimarke verdient. Irgendeine Idee, wozu diese Zahlen gehören?«
»Noch nicht. Ich bin auch nicht hundertprozentig sicher, dass Thomas im Besitz des Beethoven-Manuskripts war«, wiegelte Daniel ab. »Dazu müsste ich die Partitur analysieren können, aus der er gespielt hat, oder eine Aufnahme des Konzerts hören. Jesus Marañón sagte, dass er weder das eine noch das andere hat. Aber vielleicht könnte ich es von Thomas' Tochter oder einem der Musiker bekommen.«
Die Juristin öffnete eine Schreibtischschublade und händigte Daniel ein Blatt voller Namen und Telefonnummern aus. »Da hast du die Liste mit den Musikern von Thomas' Orchester. Es sind fast alles Ausländer, Tschechen, glaube ich - die sollen weniger Gage verlangen. Ich nehme an, viele von ihnen sind schon nicht mehr in der Stadt oder nicht einmal mehr in Spanien, sondern auf Tournee. Dir werden sie vertrauen, weil du auch Musiker bist. Versuch, noch mehr herauszubekommen. Möglicherweise hat einer von ihnen Thomas irgendetwas über die Partitur sagen hören oder eine Anspielung auf das Tattoo aufgeschnappt. Um den Raub der Symphonie als Tatmotiv plausibel zu machen, ist es unabdingbar, das Manuskript zu finden. Ich würde als Erstes mit Thomas' Tochter sprechen. Sie wohnt im Palace. Hier ist ihre Zimmernummer.« »Und Sie haben Susana gesagt, dass die Partitur mit einem Marktwert von bis zu dreißig Millionen Euro gehandelt werden könnte?«, fragte der Gerichtsmediziner merklich aufgeregt.
»Kann sein, dass ich etwas übertrieben habe«, erwiderte Daniel. »Aber wenn es sich um die ganze Symphonie handelt und nicht nur um den ersten Satz, könnte ein fanatischer Sammler unvorstellbare Summen dafür auf den Tisch legen.«
»Das hängt sicherlich auch von der Qualität der Komposition ab, oder?«, fragte Pontones.
»Sei nicht albern, Felipe«, wies ihn die Richterin zurecht. »Wir reden von Beethoven auf dem Gipfel seines Schaffens. Das kann nur ein Meisterwerk sein.« Daniel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Habe ich etwas Komisches gesagt?«, fragte die Richterin unangenehm berührt. Beim Thema Musik fühlte sie sich immer unsicher.
»Mir ist nur gerade eingefallen, dass Beethoven auf dem Höhepunkt seines Könnens Wellingtons Sieg komponiert hat, ein grässliches Stück. Er selbst hielt es für Schwachsinn.«
»Wessen Sieg?«
»Wellingtons. Das Stück war zu Ehren des berühmten Generals geschrieben, der Napoleon bei Waterloo schlug. Es ist hier auch als Sinfoma de la Victoria - Siegessymphonie - bekannt, dabei ist eigentlich Vitoria gemeint, die baskische Stadt, wo Wellington zuvor den Sieg über Joseph von Spanien errang. Mit dieser Schlacht wurden die napoleonischen Truppen von der Iberischen Halbinsel vertrieben.«
»Aber - du hast gesagt, das Stück sei vom reifen Beethoven komponiert worden. All seine Ausdrucksmittel müssen doch schon vollkommen entwickelt gewesen sein.« »Auf jeden Fall. Wellington besiegte Pepe Botella, den Flaschen-Pepe, wie Joseph hier auch genannt wird, im Juni 1813, zwei Jahre vor der Schlacht von Waterloo. Beethovens Stück wurde im Dezember desselben Jahres aufgeführt. Damals
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