Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Regime, dem Nationalsozialismus, verspielt worden sei. Der Vertrag solle einen Weg zur zukünftigen Versöhnung weisen. «Wir müssen», so Brandt, «unseren Blick in die Zukunft richten und die Moral als politische Kraft erkennen.»
Moral und Politik – dies verlangte nach einer überzeugenden Geste. Die Atmosphäre des Kanzlerbesuchs in Warschau war kühl, denn die Westdeutschen galten noch immer als aggressive Revisionisten. Vorgesehen war, dass der deutsche Regierungschef die Gedenkstätte für gefallene polnische Soldaten besuchte. Brandt selbst äußerte den Wunsch, auch am Denkmal für die Aufständischen des Warschauer Ghettos von 1944 einen Kranz niederzulegen. An jenem 7. Dezember trat Willy Brandt vor das Denkmal, ordnete die Schleifen des niedergelegten Kranzes, trat zurück und sank plötzlich und für alle vollkommen unerwartet auf die Knie. Mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen blieb er etwa eine halbe Minute in dieser Stellung, bevor er sich ruckartig erhob und schweigend den Ort verließ. Das Bild des knienden Kanzlers ging um die Welt. Es überhöhte die völkerrechtlichen Verträge von Moskau und Warschau durch eine moralische Kraft sondergleichen. Brandt wurde so zu einer Ikone des Friedens. Hermann Schreiber, mitgereister Journalist des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, beschrieb mit Blick auf den biographischen Hintergrund Brandts als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus die Dramatik der Situation: «Dann kniet er, der das nicht nötighat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können.»
Die Botschaft, die der Kniefall beinhaltete, war vieldeutig: Demut, Unterwerfung, Ehrbekundung. Der christliche Gestus verwies auf Schuld und Sühne. Durfte ein deutscher Kanzler als Repräsentant seines Landes niederknien? In einer Umfrage wenige Tage nach dem unerhörten Ereignis gaben 48 Prozent der befragten Bundesbürger an, sie empfänden die Geste als übertrieben. Insofern war die Frage, die an den in Warschau ebenfalls anwesenden ZEIT-Journalisten Hansjakob Stehle gestellt wurde, gar nicht abwegig: Ein polnischer Beobachter habe ihn, so berichtete er, während des Kniefalls flüsternd gefragt, «ob die Bundesrepublik einen solchen Kanzler schon verdient» habe.
Der Kniefall war das eindringlichste Symbol der Neuen Ostpolitik Willy Brandts, die zu einem Ausgleich mit den Ländern im Osten führte und die Westpolitik Konrad Adenauers ergänzte. Erst beides zusammen: Westintegration und Neue Ostpolitik machte die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik komplett. Brandts Kniefall war ein Zeichen für die Veränderung Deutschlands nach dem Krieg, nämlich dafür, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt hatten. Er symbolisierte den Übergang von der Phase des Verdrängens zur Zeit der Anerkennung und Aufarbeitung deutscher Schuld. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker meinte viel später sogar, dass Brandts symbolische Geste die EU-Osterweiterung erst ermöglicht habe. Tatsächlich hat sie Vertrauen in die Deutschen geschaffen. Im Jahr 2000, dreißig Jahre nach dem Besuch Willy Brandts in Warschau, wurde dort ein Festakt begangen, an dem auch Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einer Delegation teilnahm – der ehemalige Außenminister Walter Scheel war dabei sowie die Schriftsteller Günter Grass und Siegfried Lenz, die bereits 1970 Brandt begleitet hatten. Nach den Feierlichkeiten wurde ein Denkmal für den Kniefall in Warschau eingeweiht und ein Platz nach Willy Brandt benannt. Die Benennung eines Platzes nach einem Deutschen stellte ein Novum in Polen dar – nichts hätte den Wandel der deutschpolnischen Beziehungen sinnfälliger machen können.
24. War die Bundesrepublik eine «Friedensmacht»? Seit dem Jahr 1901 wird der Friedensnobelpreis vergeben, und im 20. Jahrhundert haben ihn vier Deutsche erhalten: 1926 Außenminister GustavStresemann, 1927 Ludwig Quidde, der wichtigste Vertreter der deutschen Friedensbewegung, 1935 Carl von Ossietzky, der bereits inhaftierte Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und schließlich 1971 Bundeskanzler Willy Brandt. Als er am 10. Dezember in der Aula der Universität von Oslo die Urkunde und die Medaille entgegennahm, erschien das bundesrepublikanische «Modell Deutschland», von dem er häufig sprach, als «Friedensmacht». Die Bundesrepublik setzte sich bewusst von der aggressiven Hegemonial- und Kriegspolitik des
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