Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
über einen sensationellen Milliardenkredit für die marode DDR, den Strauß dann mit dem zwielichtigen Alexander Schalck-Golodkowski aushandelte. Dieser war Chef des «Bereiches Kommerzielle Koordination» (kurz: KoKo), einer DDR-Behörde, die im rechtsfreien Raum internationale Bankgeschäfte tätigen und Konten unterhalten konnte. Mit den Geschäften der KoKo hoffte die SED-Führung, die dramatisch wachsende Auslandsverschuldung reduzieren zu können. Bisher schon hing die DDR am westlichen Tropf: Der zinslose Überziehungskredit im innerdeutschen Handel – der «Swing» – ersparte dem Land jährlich rund 50 Mio. D-Mark an Zinskosten. Seit November 1974 war der Kreditrahmen pro Jahr auf 850 Mio. D-Mark gestiegen. Wegen der daraus resultierenden Abhängigkeit von Bonn war Honeckers Politik im SED-Politbüro sehr umstritten. Nun jedoch brachen alle Dämme: Die Bundesrepublik Deutschland bürgte für den Milliardenkredit – 1984 und 1985 folgten weitere –, den die DDR bei westdeutschen Banken aufnahm und der das Leben und Sterben der ostdeutschenDiktatur um einige Jahre verlängerte. Im Gegenzug rang sich das SED-Regime wie schon bei der Neuen Ostpolitik zu humanitären Zugeständnissen durch, baute Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze ab, versprach weitere Reiseerleichterungen und lockerte den Zwangsumtausch. Strauß wurde von deutschnational-konservativen Kreisen, denen er bisher als Vorbild galt, des «Verrats» bezichtigt und sein Verhalten war Anlass dafür, dass sich die rechtsextreme Partei «Die Republikaner» gründete. Er selbst rechtfertigte seinen Entschluss, den Kreditwunsch der DDR zu unterstützen, damit, dass es keinen Sinn habe, die Notsituation in der DDR so zu verschärfen, dass die Belastungen für die Menschen unerträglich würden.
38. Warum ändern die Deutschen immer ihre Nationalfeiertage? An Nationalfeiertagen soll sich eine Gesellschaft in ihrer politischen Substanz wiedererkennen. Sie sind so etwas wie symbolische Verdichtungen, sie stiften jenseits des politischen Tagesstreits Identität und sind «Erinnerungsorte» für die Menschen. Dies geschieht beispielsweise in Frankreich recht einmütig am 14. Juli – in Erinnerung an den Sturm auf die Bastille 1789 – und in den Vereinigten Staaten am «Independance Day», dem Unabhängigkeitstag am 4. Juli. Und was tun die Deutschen? Deutschland hat seit seiner Einigung 1871 eine Vielzahl von Feiertagen gehabt, die allerdings meist nur kurze Zeit galten, in der Bevölkerung oftmals unbeliebt waren oder unbekannt blieben und zudem einen erbitterten Kampf um konkurrierende «Erinnerungsorte» hervorbrachten. Dass die Deutschen Weltmeister im Auswechseln von Nationalfeiertagen sind, liegt an der beispiellosen Häufigkeit, mit der deutsche Staaten untergingen und an einer entsprechenden jeweils neuen Suche nach «deutscher Identität». Im 20. Jahrhundert sind vier deutsche Staaten vom Erdboden verschwunden: Das Kaiserreich 1918/19, die Weimarer Republik 1933, das «Dritte Reich» 1945 und die DDR 1990; nur die Bundesrepublik hat, wenngleich verändert, seit 1949 bis heute überdauert. Aber auch sie hat ihren Nationalfeiertag geändert. Seit 1990 ist es der 3. Oktober. Er löste den alten Nationalfeiertag, den 17. Juni ab, der seit 1954 an den Volksaufstand von 1953 in der DDR erinnerte. Dass dieser «Tag der deutschen Einheit» just zu dem Zeitpunkt weichen musste, als die deutsche Einheit vollendet wurde, klingt paradox und war sehr umstritten. Es gab durchaus gute Argumente für die Beibehaltungdes 17. Juni. Doch seit den 1970er Jahren wusste nur noch ein Minderheit der Bundesdeutschen, warum am schönen Frühsommertag des 17. Juni überhaupt jedes Jahr arbeitsfrei war. Statt diesen Tag zu revitalisieren vollzog die Politik 1990 das, was man in Deutschland bisher nach jedem Umschwung vollzogen hatte: die Auswechslung des Nationalfeiertages.
39. Gab es an der innerdeutschen Grenze einen Schießbefehl? Ja. Den faktischen Schießbefehl für die DDR-Grenzeinheiten, damals 38.000 Mann, beschloss das SED-Politbüro neun Tage nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961. «Schießt nicht auf die eigenen Landsleute!» hatte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, wenige Tage nach dem Mauerbau noch an die DDR-Grenzer appelliert. Walter Ulbricht verfasste daraufhin an jenem 22. August ein Papier, in dem es hieß: «Nach der verleumderischen Rede Brandts (solle) durch Gruppen, Züge oder Kompanien
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