Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
setzte Chruschtschow sein Ultimatum mehrfach aus, weil er vor den unwägbaren Folgen zurückschreckte. Unterdessen schwoll der Flüchtlingsstromweiter an. Es wurde immer offensichtlicher, dass der SED-Staat regelrecht ausblutete. Die innerdeutsche Grenze war zwar seit Mitte der 1950er Jahre «abgedichtet», doch 95% der Flüchtlinge aus der DDR verließen das Land durch das «Schlupfloch» Berlin.
Zwischen 1945 und 1961 hatten dreieinhalb Millionen Menschen die SBZ und die spätere DDR verlassen. Besonders Jüngere und gut Ausgebildete stimmten mit den Füßen gegen den «Arbeiter- und Bauern-Staat» ab. Moskau machte sich Sorgen. Würde, wenn dieser Vorposten fiele, dann nicht auch Polen, ja ganz Osteuropa verloren gehen? Musste man, so wird sich Chruschtschow gefragt haben, nicht den Brand- und Bettelbriefen Ulbrichts endlich nachgeben und seine Pläne zur Abschottung akzeptieren? Seit den 1950er Jahren hatte die SED ein Konzept nach dem anderen entworfen, um das Loch West-Berlin zu stopfen. Als Vorbereitung einer späteren Isolierung West-Berlins konnte die kostspielige Verlegung eines Eisenbahnringes rund um die Westsektoren gelten. Doch gleich kamen Chruschtschow wieder Zweifel: Würde eine solche Aktion in der Welt nicht als Bankrotterklärung und ideologische Niederlage des Kommunismus wahrgenommen werden?
Vermutlich traf das endgültige «Ja» zum Mauerbau aus Moskau am 6. Juli 1961 in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden in Ost-Berlin ein. Schon längst war in der DDR Material produziert und gehortet worden, immens viel Stacheldraht, unzählige Pfähle und anderer Baustoff. Auch die Logistik war angelaufen, denn ein solches waghalsiges Unternehmen konnte nicht von heute auf morgen durchgeführt oder gar improvisiert werden, sondern benötigte Vorlauf und penible Planung. Auf der Tagung der Warschauer Pakt-Staaten vom 3. bis 5. August 1961 wurden die Pläne nur noch zur Kenntnis genommen, beschlossen war bereits alles. Ulbricht setzte Erich Honecker als Stabschef der Aktion ein. Er hatte für den reibungslosen Ablauf ab dem 13. August 1961 zu sorgen, tat dies mit großer Begeisterung und hielt bis an das Ende seines Lebens an der Lüge vom «antifaschistischen Schutzwall» fest.
In den 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen ihres Bestehens wandelte sich das Gesicht der Mauer ständig, bevor das Monstrum fiel und die Epoche des Ost-West-Konflikts zu Ende ging. 1963 wurde die Hohlblocksteinmauer durch eine erste Betonmauer mit einer Stärke bis zu einem Meter ersetzt. Ab 1965 kamen Bunker hinzu. Dann wurden auf der nach Westen weisenden Seite der Mauer Kunststoffplattenvorgeblendet. Ab 1974 – mitten in der Zeit der Entspannung – ging die SED daran, die dritte Mauergeneration zu errichten. Die «Grenzmauer 75», so der Fachterminus der DDR, bestand aus vorgefertigten Stahlbetonplatten hoher Dichte mit einem Gewicht von 2,6 Tonnen, die auf einem integrierten Sockel vertikal dicht nebeneinander aufgestellt wurden. Höhe jetzt: 3,60 Meter, Breite 1,20 Meter, Wandstärke 15 Zentimeter, Bekrönung nicht mehr durch hässlichen Stacheldraht, sondern durch ein aufgelegtes Betonrohr. 45.000 dieser Segmente wurden in Berlin verbaut, jedes Teil kostete in der Herstellung 359 Ostmark. Aus dem Material der Befestigungsanlage hätte man eine kleine Stadt bauen können. «Die» Mauer bestand eigentlich aus zwei Mauern. Die eine, eben beschriebene, war die West-Mauer, sie bildete aus Ost-Berliner Sicht den Außenring, während der Innenring durch die Ost-Mauer markiert wurde. Dazwischen lag der bis zu hundert Meter breite Todesstreifen mit elf unterschiedlichen Hinderniszonen. Dazu gehörten: Alarmgitter, Stolperdrähte, die Leuchtkugeln auslösten, einbetonierte Stahlspitzen, Hundelaufanlagen, Panzergräben, Kfz-Fallen, Asphaltstraßen für Patrouillenfahrzeuge. In den 1970er Jahren kamen Selbstschussanlagen hinzu. Die Berliner Kanalisation war zunächst mit Gittern abgesperrt worden, durch die man allerdings durchkriechen konnte. Auch hier gab es «Verbesserungen», und in Grenzgewässern wurden mit Nägel gespickte stählerne Unterwassermatten und Sperrbojen eingelassen. Im Jahr 2000 sollte die «High-Tech-Mauer 2000» die Welt über die ostdeutsche Ingenieurskunst staunen lassen: Geplant waren Infrarotschranken, deren Strahlen beim Durchqueren Scheinwerfer einschalten und Alarm auslösen sollten; Sperren aus extra dünnen Drahtrollen, in denen sich ein Mensch bis zur Bewegungslosigkeit verfangen
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