Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
als «normale Nation» mit einem «normalen» Geschichtsbewusstsein zu präsentieren. Dazu gehörte, dass er sich mit US-Präsident Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg traf, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben lagen, was der Präsident nicht wusste und ihn in eine schwere innenpolitische Krise stürzte. Zahlreiche linksliberale Intellektuelle erzürnte diese symbolische Geste, und Jürgen Habermas, der einflussreichste Philosoph der Bundesrepublik, vermutete hinter dem Händedruck der Regierungschefs eine «Entsorgung der NS-Vergangenheit». Beschworen werde vielmehr eine deutsch-amerikanische antikommunistische Waffenbrüderschaft. Der Konflikt schwelte weiter und eskalierte ein Jahr später, als im Juni 1986 der Berliner Historiker Ernst Nolte einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterdem Titel «Vergangenheit, die nicht vergehen will» veröffentlichte. Darin forderte er einen Vergleich zwischen der NS-Diktatur und der Sowjetdiktatur, bestritt die Singularität des Holocaust und stellte die rhetorische Frage: «War nicht der ‹Archipel GULAG› ursprünglicher als Auschwitz?» Damit war die Lawine losgetreten. Zunächst reagierte wieder Habermas und warf Nolte und konservativen Historikern «apologetische Tendenzen» vor. Der Ton verschärfte sich von einem Zeitungsartikel zum nächsten. Die Konfliktlinie verlief zwischen sozial- und christdemokratischen Intellektuellen. Auf der Seite Ersterer fanden sich neben Habermas: Martin Broszat, Eberhard Jäckel, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler. Auf der Gegenseite neben Nolte: Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Michael Stürmer, Joachim Fest und Horst Möller. Hinter der Frage über die Zulässigkeit eines Diktaturvergleichs und über die Einzigartigkeit des NS-Völkermords tauchte schnell der eigentliche Kern des Streits auf: Es ging grundsätzlich um die historisch-kulturellen Fundamente der Bundesrepublik. Die konservative Seite argumentierte, dass eine «selbstquälerische Schuldbesessenheit» zu einer «verletzten Nation» geführt habe und schob dies einer sozialliberalen NS-Vergangenheitsbewältigung in die Schuhe. Sie forderten ein positives nationales Geschichtsbild. Dagegen konterten die Linksliberalen: Die kritische Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik sei ein hohes Gut, denn sie zeuge von einem aufgeklärten Geschichtsbewusstsein, welches wiederum die geistige Westbindung der endlich demokratisch gewordenen Deutschen dokumentiere. Wie lautete das Ergebnis? Lange Zeit flackerten Nachhutgefechte auf; sie können sich mit all den dazugehörenden Verdächtigungen auch heute noch jederzeit fortsetzen. Aber zweierlei hat der «Historikerstreit» bewirkt: Erstens ist der Holocaust in das Zentrum der wissenschaftlichen wie öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit geraten, und zweitens wurde die Erinnerung an den Nationalsozialismus für die Bundesrepublik eine Art Imperativ. Darin liegt ein erheblicher Vorteil, aus dem positive Identität geschöpft werden kann, denn Geschichte soll uns ja nicht nur zeigen, was wir sind, sie soll uns auch zeigen, was wir
nicht mehr
sind!
67. Ist der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung? In seiner berühmten und weltweit beachteten Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 erinnerte Bundespräsident Richard von Weizsäcker an das Leidender Deutschen 1945, um dann fortzufahren: «Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es für uns heute alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.» Eine Allensbach-Umfrage zehn Jahre später, 1995, die Personen betraf, welche vor 1933 geboren wurden, scheint dies zu bestätigen: Nur 17 Prozent gaben an, ihre Empfindungen 1945 hätten einem «Gefühl der Niederlage» entsprochen; doch 67 Prozent wollten sich an ein «Gefühl der Befreiung» erinnern. Dies ist bemerkenswert, denn es deckt sich überhaupt nicht mit den Werten von 1945. Damals fühlten sich die meisten Deutschen besiegt, aber nicht befreit. Und auch 1955 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der 8. Mai sei ein «düsterer Tag der tiefsten Erniedrigung» für die Deutschen gewesen.
Als die sozialliberale Bundesregierung am 8. Mai 1970 erstmals offiziell im Deutschen Bundestag des Kriegsendes gedachte, protestierte die CDU/CSU energisch gegen eine solche «Kapitulations-Würdigung»; nationale
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