Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
in die Gegenwart Ausdruck der verfassungsmäßig festgelegten Kulturhoheit der Bundesländer. Bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 achteten die westlichen Alliierten, besonders die Franzosen und die Amerikaner, mit Argusaugen auf ein föderales Struktur- und Verantwortungsprinzip, um der Zentrale, dem Bund, nicht zu große Macht einzuräumen. Dies war auch eine Folge der nationalsozialistischen Politik, nicht zuletzt des Missbrauchs von Kunst und Kultur. Insgesamt jedoch kamen ältere deutsche Traditionen und neue alliierte Prägungen zusammen. Als «Herzstück der Eigenstaatlichkeit der Länder» gelten deshalb die kulturellen Angelegenheiten und die Zuständigkeit für das Schul- und Hochschulwesen – man spricht von der «Kulturhoheit» der Länder. Dies führte zu einer im europäischen Vergleich großen kulturellen Vielfalt, denn wo es kein mächtiges Zentrum gibt, das alles an sich zieht, da gibt es auch keine machtlose Peripherie, die verödet. Die Kehrseite ist ein ständiges Gerangel um die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Hochschulabschlüssen und eine höchst unterschiedliche Bildungspolitik, wie sie jüngst wieder mit Blick auf die Studiengebühren sichtbar wurde: Einige Bundesländer erheben diese Gebühr, andere nicht. Schließlich haben auch die Städte und Landkreise einen eigenständigen Kulturauftrag und können sich dabei nicht allein auf die jeweilige Landesverfassung berufen, sondern ebenso auf das Grundgesetz(Art. 28 Abs. 2). Licht und Schatten liegen hier ebenfalls nah beieinander, denn der Spar- und Konsolidierungsdruck der öffentlichen Haushalte wirkt sich meistens zuerst auf den kulturellen Bereich aus. Er steht bei den Streichlisten immer ganz oben.
78. Seit wann gibt es mehr Studentinnen als Studenten? Die Bildungsexpansion seit Mitte der 1960er Jahre hat die Gesellschaft der Bundesrepublik stärker verändert als jede andere Entwicklung. Sie ermöglichte für viele bessere Berufs- und Lebenschancen. Am meisten profitierten die Kinder mittlerer Angestelltenschichten von den Reformen – und vor allem Frauen, was auch daran lag, dass sie bis dahin extrem benachteiligt waren. Bis 1960 stieg die Zahl der Studierenden auf 247.000 an, wobei die Frauenquote bei 27 Prozent lag. Danach begann die eigentliche, bis 1980 andauernde Expansionsphase des Hochschulsystems. In diesen beiden Jahrzehnten wurden 24 neue Universitäten und Technische Hochschulen gegründet. Der Bedarf an Lehrpersonal stieg enorm an. Niemals mehr danach gab es eine derart goldene Zeitspanne für akademische Karrieren. Bis 1970 hatten die Studierendenzahlen die halbe Million überschritten, und im Jahr 1980 wurde die Millionengrenze erreicht – ohne, dass ein Ende der Expansion abzusehen gewesen wäre. 1990 waren 1,7 Millionen Studierende an den «Massenuniversitäten» immatrikuliert. Der Frauenanteil, der 1975 noch 36 Prozent betragen hatte, war auf 41 Prozent angewachsen und Mitte der 1990er Jahre überholten die Frauen die Männer schließlich.
79. Bis wann gab es nur eine deutsche Olympiamannschaft? In der Sprache des ostdeutschen SED-Regimes war Sport die «Werkstatt des Sieges». Auch auf diesem Feld sollte sich die Überlegenheit des Sozialismus erweisen. Dass man bei den Olympischen Spielen lange Zeit nur im Rahmen einer gesamtdeutschen Mannschaft siegen konnte – also zusammen mit den Sportlern des westdeutschen «Klassenfeindes» –, rief bei Walter Ulbricht und beim Politbüro größtes Missbehagen hervor. Man hatte alles versucht, um Anerkennung zu erlangen: Bereits 1951 war ein «Nationales Olympisches Komitee der DDR» gegründet worden, um dem westdeutschen Gegenstück, das sich «Nationales Olympisches Komitee für Deutschland» (NOK) nannte, Paroli zu bieten und sich von ihm abzugrenzen. Es half nichts, die Bundesrepublik nutzte ihre wiedergewonnene internationaleStellung, um Druck auszuüben, und so erkannte das «Internationale Olympische Komitee» (IOC) die DDR staatlich nicht an. Dies bedeutete, dass Sportler aus der DDR in Melbourne 1956 zwar teilnehmen durften, aber nur unter dem Dach einer gesamtdeutschen Mannschaft. Damit wies das IOC, das die deutschen Zwistigkeiten zusehends unerträglicher fand, den beiden deutschen NOKs den schwarzen Peter zu, denn sie mussten entscheiden, mit welcher Nationalhymne sie antreten sollten. Unerwarteterweise gelang es der DDR, auf diesem Gebiet zu punkten: Sie akzeptierte Ludwig van Beethovens «An die Freude» als Hymnen-Kompromiss, womit die
Weitere Kostenlose Bücher