Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
federführend bis zum siebten Teil mit.
Lessing hat Johann Christoph Gottsched (1700–1766) mit seinem Urteil bis in unsere Tage hinein beschädigt. Es ist schon verblüffend und auch ein wenig bedauerlich, dass Gottscheds Name heute eigentlich für das Gegenteil dessen steht, worum es ihm selbst in seiner Zeit zu tun war. Er selbst fühlte sich als ein Neuerer und Modernisierer, wir Heutigen sehen in ihm immer noch den restriktiven Vertreter und Propagandisten einer Regelpoetik, der sich gegen die neueren Tendenzen in der Literatur des 18. Jahrhunderts stellte. Gottsched ist 1730 zum außerordentlichen Professor für Poetik und 1734 zum ordentlichen Professor für Metaphysik und Logik ernannt worden. Mit diesen Fachzuschreibungen war Gottsched also für grundlegende Fächer zuständig, denn die Poetik warnicht allein die Beschreibung von Literatur. Ein solcher Literaturbegriff musste sich erst bilden, und wesentlich dazu hat auch Gottsched beigetragen. Poetik war vielmehr die Nachbardisziplin der Rhetorik, und wo sich die Rhetorik auf gesprochene Texte bezieht, bezieht sich die Poetik in erster Linie auf geschriebene Texte, wobei rhetorische Strukturen sich dann, wie wir schon gesehen haben, auch in schriftlichen Texten strukturbildend entfalten. Poetik ist damit eine grundlegende Textwissenschaft.
Im Jahr 1730 erschien Gottscheds epochemachendes Werk, das so viel Ablehnung hervorgerufen hat, der
Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen
, ein Werk, das zu Lebzeiten vier Auflagen und Ergänzungen und Erweiterungen erlebt hat. Dieses Werk ist eine moderne Literaturtheorie. Wenn man sie mit dem ca. 100 Jahre früher erschienenen
Buch von der deutschen Poeterey
von Opitz vergleicht (siehe Frage 22), so darf diese Wertschätzung Gottscheds Text nicht vorenthalten werden, ja, mit dem aufklärerischen Gestus, die Dichtung kritisch erfassen zu wollen, gewinnt dieses Werk einen systematischen und einen geradezu enzyklopädischen Charakter. Dabei gilt es, den Begriff der Kritik besonders herauszuheben. Das muss man umso deutlicher bedenken, als die Verbindung von Literatur und Kritik in der heutigen Literaturkritik nur noch eine Schwundstufe jenes aufklärerischen Denkens aufweisen kann. Kritik meint im Kontext der Aufklärung die Art und Weise, wie die Vernunft auf Gegenstände angewendet wird. Es geht nicht um Krittelei, sondern um eine systematische Erfassung und Erkenntnis der Sache selbst. Eine kritische Dichtkunst ist daher eine Beschreibung von Literatur, die auf eine vernunftbasierte Erkenntnis von Literatur hinausläuft. Allerdings kommt bei Gottsched in der Tat ein Aspekt mit hinzu, der im heutigen Begriff von Kritik mitschwingt: der Aspekt des Normativen. Gottsched beschreibt also Literatur nicht nur, wie sie ist, sondern wie sie sein soll.
In der ersten Auflage geht es um den Ursprung der Poesie, sodann um den Charakter des Poeten, um den Geschmack im Sinne einer ästhetischen Theorie, um die Ausdifferenzierung der Gattungen, um das Wunderbare und mithin um Möglichkeiten und Grenzen der Fiktionalität, der literarischen Phantasie und Imagination. Zuletzt widmet sich Gottsched dem Drama und seinen beiden Grundgattungen, der Tragödie und der Komödie. Die eigentlich aufklärerische Pointe seiner Literaturtheorie besteht darin, dass Literatur selbst eine vernünftige Veranstaltung ist, (als) vernünftig erkannt werden und ihrerseitsvernünftig auf ihr Lese- und Theaterpublikum einwirken kann – unter einer Voraussetzung, nämlich dass sie selbst vernünftig eingerichtet wird. Was vernünftig ist, das gibt Gottsched genauestens vor.
Lessings Urteil ist nicht fair, aber vielleicht gerade deswegen historisch so markant, weil Lessing von Gottsched auf aufklärerischer Basis durchaus die Vorstellung übernimmt, dass das Drama mit seinen Möglichkeiten, auf den Zuschauer einzuwirken, eine aufgeklärte Norm zu vermitteln habe. In der Literaturgeschichte wird Gottsched als Vertreter der Regelpoetik verkannt, verkürzt oder gar diffamiert. Doch er könnte – gegen Lessing – genauso gut als Wirkungstheoretiker angesprochen werden. Denn es geht ihm nie um die Regeln um ihrer selbst willen, sondern um die Regel als Disposition von Wirkung.
32. Worum ging es in dem Zürcher-Leipziger Literaturstreit? In diesem Literaturstreit ging es um Gottsched und doch auch wieder nicht um Gottsched. Und sollen wir die ganze Angelegenheit überhaupt Streit nennen? In der Tat wurde ein intellektueller und auch
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