Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
die peinliche Situation nicht sofort in ein moralisches Wohlgefallen auf: Die frühere Geliebte vergiftet die aktuelle Geliebte.
Was sich zwischen diesen beiden Texten abzeichnet, ist eine grundlegende Veränderung im Menschenbild, das die Literatur verhandelt: ein Paradigmenwechsel in der literarischen Anthropologie. Die Aufklärung muss selbst durch Ausblendung des Gefühls verursachte Folgekosten tragen. Moral entsteht zu dieser Zeit als Handlungsprinzip der Vernunft für Individuen in der Gesellschaft. Eine vernünftige Moral macht überhaupt erst aus Individuen Mitglieder der Gesellschaft. Dass Gesellschaft aber immer noch durch Standeshierarchien strukturiert und nicht durch moralische Prinzipien geleitet wird, gibt der Literatur der Aufklärung einen riesigen Fundus an Themen- und Problemstellungen an die Hand. So kann man immer fragen, welcher Adlige schon vernünftig, und das heißt: moralisch, geworden ist. Der Adlige aus Gellerts Roman ist ein Musterbeispiel für einen solchen Typus. Wenn aber die Moral eine bürgerliche Angelegenheit ist, so kann man auch fragen, welcher Adlige schon bürgerlich geworden ist – nicht im sozialen, sondern im moralischen Sinne. Doch an dieser Stelle tritt ein anderes Problem auf: das Gefühl. Die Aufklärung entwirft ein Menschenbild, das dem Menschen nicht nur Vernunft, sondern eben auch Gefühl zuschreibt. Gefühl hat dieselbe Funktion wie Vernunft. Es verleiht dem Menschen Individualität, denn Gefühle sind sehr individuell, und es verleiht dem Menschen gleichzeitig seinen sozialen Status, denn mit seiner Emotionalität wird der Mensch – wie man es heute sagen würde – empathiefähig. Das setzt allerdings voraus, dass Vernunft und Gefühl sich nicht widersprechen. Ist dies gewährleistet, so kann das Gefühl zu dem alles umgreifenden Kitt einer funktionierenden Gesellschaft werden – im Kleinen in der Liebe und in der Freundschaft sowie im Großen in einem umfassenden Gesellschaftsmodell. Es beginnt das Zeitalter des Gefühls und des Gefühlskultes, das wir heute noch das Zeitalter der Empfindsamkeit nennen. Und der Preis, der hierfür zu zahlen ist, ist leicht einzusehen: Gefühl muss moralisiert werden.
Noch deutlicher wird dies bei einem zweiten moralischen Problem, das dieser Roman abhandelt: Die Gräfin, aufklärerisch und empfindsam erzogen, lebt also glücklich mit ihrem Mann zusammen, bis zu jenem Tag, an dem das Paar an den Hof ziehen muss unddie Frau dort den erotischen Nachstellungen des Prinzen ausgesetzt ist. Da sie sich weigert, diesem Druck nachzugeben, versetzt der Prinz ihren Mann zu einem militärischen Himmelfahrtskommando, bei dem die ganze Einheit aufgerieben wird, ihr Mann aber überlebt. Dennoch wird ihm die Schuld gegeben; er wird vor dem Militärgericht zum Tode verurteilt. Die Frau verlässt das Land, Jahre vergehen. Und schließlich heiratet die Frau wieder, einen gemeinsamen Bekannten und Freund, einen Mann, der ebenso herzensgut ist wie ihr verstorbener Gatte und der sich in der schwierigen Zeit rührend und aufopferungsvoll um die Frau bemüht hat; mit ihm hat sie dann auch ein gemeinsames Kind. Nach Jahren kommt aber der totgeglaubte Ehemann zurück. Das Todesurteil konnte seinerzeit aufgrund von Kriegseinwirkungen nicht vollstreckt werden, er wurde stattdessen gefangen genommen und konnte erst vor kurzem dieser Gefangenschaft entgehen. Was tun? Oder anders gewendet: Wie lassen sich hier noch die Gefühle moralisieren? Die Antwort, die uns Gellert gibt, mag uns psychologisch unmotiviert, ja abstrus erscheinen, und gerade deswegen gibt sie einen so deutlichen Einblick in die Problemkonstellation im Kräftefeld von Vernunft, Gefühl und Moral in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Ehepaar trennt sich formal, die Ehefrau kehrt zu ihrem ersten Ehemann zurück, aber der frühere Freund, wie man das erwarten könnte, verlässt die beiden nicht, sondern er bleibt ein Mitglied des gemeinsames Haushaltes und rückt wieder in die Position eines Freundes. Der zweite Ehemann verzichtet sofort auf alle sexuellen Privilegien, die ihm der Ehestatus eingebracht hatte. Er kann, durch diesen Zufall herausgefordert, alle erotischen Interessen sofort in freundschaftliche Empathie ummünzen. Großartig! Das Maß der Unwahrscheinlichkeit dieser Lösung ist aber zugleich ein Indikator für das Maß moralischer Funktionalisierung und Durchdringung selbst intimster Verhältnisse; Martin Greiner hat deswegen von einem «Musterfall moralischer
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