Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
literaturtheoretischer Disput ausgetragen. Die Kontrahenten waren Professor Gottsched aus Leipzig auf der einen Seite und zwei Zürcher Gelehrte, Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776), auf der anderen. Dass sich mit Lessing später auch noch ein weiterer Kontrahent geradezu traditionsbildend hervortut, zeigt umso deutlicher den Epochenumbruch, der mit diesem Literaturstreit offenbar wird. Beide Zürcher waren auch Professoren, allerdings nicht an der Universität, sondern am Zürcher Gymnasium. Sie waren nicht professionell auf Literatur spezialisiert, sondern hatten beide Theologie studiert, Bodmer zudem helvetische Geschichte, Breitinger hat sich dann auch der Philologie zugewandt. In ihren Anfängen zogen sie am selben Strick wie Gottsched: Es ging ihnen um eine Rationalisierung von Literatur und damit um eine Modernisierung der Vorstellung von Literatur im Kontext aufklärerischen Denkens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dafür mag man als Beleg nehmen, dass Breitinger ein zweibändiges Werk schreibt, das fast denselben Titel trägt wie die programmatische Schrift Gottscheds, nämlich
Critische Dichtkunst
, und das 1740, also nur fünf Jahre nach Gottscheds Werk, erscheint. Hier fällt ebenfalls ganz zentral der Begriff der Kritik als einer intellektuellen Methode, auch Literatur nach vernünftigen Grundsätzen zu bestimmen und neu zu entwerfen. Dass die beiden Zürcher Autoren danndoch in eine Frontstellung zu Gottsched gekommen sind, ist vor allem ein Beleg für die dynamischen Entfaltungsprozesse, die sowohl die Literatur als auch die Poetik im 18. Jahrhundert durchlaufen. Worum es eigentlich geht, lässt sich eher am Titel des Buches ab lesen, das Bodmer schreibt:
Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie
(1741).
Versucht man, die Problematik auf den Punkt zu bringen, die die beiden Autoren gerade gegenüber einer Position vertreten, für die Gottsched steht, so könnte man sagen, dass dasjenige, was Literatur interessant macht, nicht unbedingt dasjenige ist, was sie vernünftig macht. Die Frage ist, wie Literatur eine als vernünftig erkannte Welt nachahmt. Der griechische Begriff der Nachahmung, Mimesis, wird zu einem aufklärerischen Literaturprogramm. Mit diesem engen Begriff von Mimesis wird eben all dasjenige, was auf Phantasie und kreative Einbildungskraft zurückgeht, nicht nur nicht erfasst, sondern regelrecht aus der Literatur verbannt. Es geht bei diesem Streit vor allem darum, Einbildungskraft, Imagination, das Wunderbare und schließlich die Phantasie in einem aufklärerischen Kontext einer frühen Literaturtheorie als Konstituenten der Literatur durchsichtig zu machen und vernunftgemäß zu legitimieren. Der Zürcher-Leipziger Literaturstreit ist insofern ein Symptom der durch die Aufklärung angestoßenen Modernisierung von Literatur.
33. Ist Literatur ein eigenständiges Medium? In Lessings Schrift
Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie
aus dem Jahre 1766 werden eine Medientheorie und eine Medienkomparatistik
avant la lettre
entwickelt, wenn man den spezifischen Bezugspunkt, die die jeweilige Kunstbetrachtung hat, auf ihren entsprechenden medialen Grund zurückführt. In der Tradition bis zu Lessing wurden vor allem das Zusammenspiel und der Wettstreit der Künste (Paragone) herausgehoben. Lessing wandte sich nun gegen diesen – wenn wir es einmal so nennen wollen – Medientransfer zwischen Literatur und Malerei. Er zieht eine klare Grenze, um die Spezifika von Malerei, aber vor allem von Literatur weiter herauszuarbeiten. Dabei geht es ihm vor allem darum, die Literatur von der Idee zu befreien, sie würde nur aus der Malerei erwachsen (wie bei Horaz:
ut pictura poesis
). Ja, mehr noch: Lessing will ein Potenzial der Literatur offenkundig machen, das ihr sogar mehr Möglichkeiten zuschreibt als der Malerei.
Ähnlich wie mit der Malerei verhält es sich mit der Plastik und der Skulptur. Lessing wendet sich in diesem Zusammenhang auch gegen die Position von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der 1755 einen sehr wirkungsmächtigen Aufsatz herausgebracht hatte:
Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
. Er hat darin die Formel «edle Einfalt und stille Größe» ausgegeben und damit vor allem auf die Kunstvorstellungen der Klassik vorausgewirkt. Lessings
Laokoon
ist Fragment geblieben, weil Lessing seine Überlegungen nicht in eine solche monographische Form bringen
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