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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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konnte. Lessing betont ausdrücklich in seiner Vorrede, dass sein
Laokoon
in «zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Lektüre, als durch die methodische Entwicklung allgemeiner Grundsätze angewachsen» sei. Wenn in der griechischen Plastik ein Paradigma von Kunst vorliegt, wie kann Lessing dann dagegen noch der Literatur ein Eigenrecht als Kunst sichern und wie kann Literatur selbst noch dieses Paradigma übertreffen?
    Man könnte sagen, dass Lessing hier nicht nur ganz Aufklärer, sondern geradezu moderner Medientheoretiker ist. Er begreift die Künste als Medien und kann deswegen vor allem auf das Zeitmanagement der beiden Medien – Literatur hier und Malerei (oder Plastik) dort – abheben. Literatur entfaltet sich sprachlich in der Zeit in einem Nacheinander ihrer sprachlichen Zeichen. Daher kann Literatur all das ausdrücken, was selbst in und mit der Zeit existiert, was also genuin zeitlich ist. Jede Handlung hat eine solche zeitliche Dimension, deswegen kann Literatur in allererster Linie Handlungen ausdrücken. Zwar kann auch die Malerei und die Plastik – wie nicht zuletzt die Laokoon-Gruppe, die in den Vatikanischen Museen steht, Handlungen darstellen, aber nur andeutungsweise, indem sie die Gegenstände so anordnet, dass ihre Veränderung im Raum erahnt werden kann. An der Laokoon-Gruppe wird dies besonders deutlich, geht es doch hier um einen ganz besonderen Moment, einen extremen Moment allergrößten Schmerzes. Sie zeigt den Todeskampf von Laokoon und seinen beiden Söhnen, die, nachdem sie gegen das trojanische Pferd einen Speer geschleudert hatten, von zwei von Athene geschickten Schlangen getötet wurden. Für Winckelmann wird dieser Moment zwar in der Plastik eingefangen, dabei aber auch schon wieder ethisch verklärt. Im Schmerz hat sich Größe zu zeigen. Mit Lessing könnte man dagegenhalten:Was die Statue darstellen will, kann sie nicht adäquat darstellen, weil sie Statue ist. Damit wird in Lessings Augen eine ethische Rechtfertigung für einen ästhetischen Sachverhalt nachgeliefert. Umgekehrt kann die Literatur nicht eigentlich Körper darstellen, sondern nur die Handlung. Und insofern müssten die beiden Medien sich vor allem auf ihr medienspezifisches Potenzial konzentrieren. Wo es allerdings um Fragen einer ästhetischen Darstellung des Ethischen, also schlichtweg um Handlungen, die als solche überhaupt erst ethisch beurteilt werden können, geht, kann die Literatur ihr Potenzial, eine Kunst in der Zeit zu sein, voll ausspielen. Damit leistet Lessing auch einer Autonomie der Literatur weiteren Vorschub.
    34. Was ist ein Musterfall moralischer Planwirtschaft? Wir haben ein moralisches Problem: Ein Mann, ein Adliger und Offizier, liebt eine Frau, eine Bürgerliche, die ihn wohl auch liebt und die er heiraten will, aber nicht darf. Der Hof verbietet es aus Standesrücksichten. Der Mann und die Frau fügen sich. Später heiratet der Mann doch – eine Adlige, eine schwedische Gräfin, und diesmal lässt sich die Liebesheirat verwirklichen. Das Paar zieht an den Hof und begegnet dort der ersten Verlobten des Mannes wieder. Wie sollen sich die beiden Frauen verhalten? Wie geht man moralisch einwandfrei mit dieser Situation um? Gibt es hierfür überhaupt eine optimale Lösung oder sind nicht zu viele Gefühle im Spiel, die sich nicht mehr sozial ab- und ausgleichen lassen? Letzteres würden wir heute sofort bejahen. Man kennt die Menschen und ihre moralischen Grenzen. Nicht so bei Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), denn er ist der Autor eines Romans, der diese Situation schildert:
Das Leben der schwedischen Gräfin von G*
, der in zwei Teilen 1747 und 1748 erschien. Die Ehefrau des Grafen hegt keinerlei Ressentiments, und die frühere Verlobte ist sofort bereit, ihren ehemaligen Verlobten emotional freizugeben, nur um diese Gefühle sofort in eine neue Freundschaftsbeziehung, nämlich zwischen zwei Frauen, zu investieren. Ist das realistisch? Nein, aber es ist aufklärerisch. Würden wir unseren Blick ein wenig auf ein Drama wenden, das nur wenige Jahre später erschienen ist, Lessings
Miss Sara Sampson
aus dem Jahre 1755, dann könnten wir dort eine ähnliche Situation entdecken, die aber doch ganz anders gehandhabt wird, nicht zuletzt deshalb, weil die Figuren dort, abgesehen vielleicht von der Titelheldin, nicht mehr ganz sogut sind, ein so reines Herz haben und nicht mehr in der Weise empfinden, wie es noch die Figuren Gellerts tun. Diesmal löst sich

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