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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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    Agathon (der Gute) ist ein solcher Fall, er ist ein Schwärmer und Schöngeist und als solcher anfällig für allerlei auch erotische Versuchungen. Diesen muss er widerstehen, und das gelingt zunächst nur, indem er sich ihnen entzieht. Und damit beginnt ein Bildungsweg, der diesen Roman zu einem Prototypen des deutschen Bildungsromans gemacht hat. Dabei durchläuft Agathon verschiedenste Stationen, die alle Aspekte seines Bildungsweges repräsentieren: ganz bestimmte Umfelder, ganz bestimmte Herausforderungen und Versuchungen und ganz bestimmte Lerninhalte, die Agathon internalisieren muss. Der Weg ist keineswegs gerade und stringent (weder geographisch: Delphi, Athen, Smyrna, Syrakus, schließlich Tarent, noch psychologisch), er enthält Umwege, Brüche und Rückschläge, die ihrerseits gemeistert werden müssen. Agathon hat sich politischen, erotischen, philosophischen, psychologischen Herausforderungen zu stellen. Er kann sie nicht alle meistern. Er versagtzum Beispiel nach anfänglichen Erfolgen als Politiker und muss miterleben, dass ein Abstieg noch schneller kommen kann als ein Aufstieg. Er muss sich mit dem Sophisten Hippias auseinandersetzen, der eine sehr pragmatische, bisweilen sogar opportunistische, skeptizistische oder gar hedonistische Philosophie vertritt. Er hat den erotisch-frivolen Verlockungen der heißen Danae zu widerstehen, er muss sich aus der moralischen Verwerflichkeit am Tyrannenhof des Dionysius in Syrakus befreien, bevor er endlich in Tarent bei dem weisen Archytas zur Ruhe und Einsicht kommen und auch die geliebte Freundin Psyche (!) wiederfinden darf, die sich als seine Schwester herausstellt, und genauso Danae, die nun allerdings geläutert ist.
    Einen solchen Bildungsweg erzählerisch in den Griff zu bekommen ist durchaus ein schwieriges Unterfangen. Davon zeugen nicht allein die beiden weiteren Auflagen. Wieland arbeitet am Verhältnis von erzählter Geschichte und eingeschalteter Didaxe und an der Motivierung des Schlusses, der Agathon zu einem Ideal der Selbsterkenntnis führt. Beide Probleme hängen eng zusammen: Wie kann der Schluss motiviert werden, ohne dass sich der Erzähler permanent mit Moralisierungen einmischt, die das moralische Ziel vorgeben? Und in diesem Sinne ist der Roman ein empfindsamer und ein aufklärerischer Roman
par excellence
, denn es geht um die Frage, wie die Empathiefähigkeit des Menschen so aktualisiert werden kann, dass daraus der größte individuelle und soziale Nutzen gleichermaßen gezogen werden kann.
    36. Wie hat Lessing Aristoteles übersetzt? Kann man sich ein wirkungsmächtigeres Werk vorstellen als Aristoteles’
Poetik
? Bei Aristoteles findet sich eine ausgearbeitete Dramentheorie, die nicht nur besagt, woraus das Drama besteht, sondern vor allem, wie es realisiert werden kann. Dabei wird besonders auf die Wirkdisposition des Dramas abgehoben. Das Drama wird insbesondere durch die Möglichkeit definiert, die es in der Aufführung in der Theatersituation entfalten kann.
    Die Dramenkonzeption des Aristoteles wurde zwar immer wieder herangezogen, dabei aber auch immer wieder neu interpretiert und bisweilen radikal umgedeutet. Auch Lessing reiht sich in die Folge der Aristoteles-Interpretationen ein, und vielleicht ist seine Re-Interpretation sogar diejenige, die am weitesten reicht. Deutlich wird dabeiaber auch, dass er kein Hehl aus seiner Umdeutung macht. Er gibt nicht vor, Aristoteles besser zu deuten als andere, sondern macht – zumindest zwischen den Zeilen – deutlich, dass seine Konzeption einer Aristoteles-Umdeutung auch einer veränderten Dramenkonzeption vor dem Hintergrund aufklärerischen Denkens und einer aufklärerischen Anthropologie entspringt. Zeichnet man die Traditionslinie der auf die Dramentheorie bezogenen Aristoteles-Interpretationen bis zu Lessing nach, wird man erkennen, dass vieles, was Aristoteles zugeschrieben wird, tatsächlich erst in dieser Traditionslinie geboren und nachträglich als aristotelischer Gedanke ausgegeben wurde, so zum Beispiel die Ständeklausel. Dennoch kann man von einem einfachen Bestand an dramentheoretischer Grundlagentheorie ausgehen, die sich mit drei Zahlen zusammenfassen lässt: Ein Drama habe aus
fünf
Akten zu bestehen, die
drei
Einheiten einzuhalten und
eine
einzige Handlung auf die Bühne zu bringen.
    Lessing interessiert sich mehr dafür, wie man die Wirkdisposition des Theaters aufklärerisch nutzbar machen kann. Am 22.

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