Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
führen «E.» auf Schneeschuhflechter zurück. Das Muster, demzufolge eine Gesellschaft danach benannt wird, was von ihren Menschen (vermeintlich) gern gegessen oder welcher Berufsstand dort häufig anzutreffen sei, stellt ein problematisches Herangehen dar. Wenn Deutsche von anderen als Sauerkrautfresser bezeichnet werden, ist hierzulande jedem klar, dass dies abwertend und undifferenziert ist. «Rohfleischfresser» ist daran gemessen kaum eine Lobeshymne. Vor allem, weil im Essen von rohem Fleisch eine Nähe zum Tierreich impliziert wird und auch der kolonialistische Mythos von «Kannibalen» nicht weit ist. Die meisten so bezeichneten Menschen lehnen es strikt ab, als «E.» bezeichnet zu werden. Einige US-amerikanische Gesellschaften, die in Alaska leben, haben sich jedoch den Begriff kritisch angeeignet. Vielen ist bekannt, dass Inuit der adäquatere Begriff ist. Aber auch er kann nicht generalisierend verwendet werden. Denn ein durch den Begriff «E.» hausgemachtes Problem bleibt bestehen. Zu viele Gesellschaften sollen hier vereinnahmt werden. Denn Inuit gibt es und in ihrer Sprache bedeutet Inuit «Mensch», jedoch unterscheiden sie sich eben von Yu'pik, Athabascan, Gwich'in oder Kalaallit.
58. Wo befindet sich der Orient? Römische Geographen verorteten den
Orient
zwischen Mittelmeer und Tigris. Dies ist nur eine von vielen geografischen Beschreibungen. Denn der Orient galt bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein zum Okzident komplementär gesetzter Sammelbegriff, der weite Teile Afrikas, dort und in Asien gelegene arabische Länder sowie Indien, China und Ozeanien umfassen konnte. Es wird suggeriert, es handle sich in diesem Raum um
eine
Kultur. Zugleich geht es darum, den Orient als Heimat des Anti-Christen hinzustellen. Linguistisch, kulturell, religiös und nicht einmal mit der europäischen Blickrichtung gen Osten (Morgenland) lässt sich dem Begriff Orient (und so auch nicht dem Begriff Okzident/Abendland) Kohärenz abgewinnen.
Edward Said (1935–2003) arbeitet in seinem, in mindestens36 Sprachen übersetzten Buch «Orientalismus» von 1978 heraus, dass der Orient eine okzidentalistische Fantasie sei, die nichts über den gemeinten heterogenen geopolitischen Raum, dafür aber umso mehr über jene aussage, die wissen, was sie mit Orient meinen. Doch es geht ihm um mehr als darum, die Einheit von Fremddarstellung und Selbstkonstruktion nachzuzeichnen. Im Kern analysiert Saids Orientalismuskritik eine spezifische Form von Rassismus, den orientalistischen Rassismus. Dieser hebt auf gesellschaftliche Konstruktionsprozesse ab, die insofern keine Fiktion sind, als sie Wirklichkeiten prägen, indem sie Sichtweisen und Handlungen auslösen, die reale Folgen haben. «Sie sind als Kulturgüter und gesellschaftliche Diskurse», schreibt Iman Attia, «wirkungsmächtig. Sie wiegen schwerer als eigene Erfahrungen und sind allzu häufig immun gegen Einwände. Brüche und Widersprüche zwischen Bildern und Erfahrungen werden geglättet.»
59. Wo liegt «Schwarzafrika»? «Schwarzafrika» liegt, wo sein arabischer Norden aufhört, beschreibt also Afrika minus Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, der Westsahara und, vor allem, Ägypten. Letzteres von Afrika abzukoppeln, war für Europa vonnöten, weil die ägyptische Hochkultur sich nicht mit den kolonialistischen Behauptungen über Afrikas «Barbarei» in Einklang bringen ließ. Frantz Fanon brachte die Notwendigkeit dieser Rechnung auf den Punkt: «Auf der einen Seite versichert man, dass das Weiße Afrika die Tradition einer tausendjährigen Kultur habe, dass es mediterran sei und Europa fortsetze, dass es an der abendländischen Kultur teilhabe. Das Schwarze Afrika bezeichnet man als eine träge, brutale, unzivilisierte – eine wilde Gegend.» So konnte leicht der kolonialistische Mythos, Afrika sei geschichtslos, transportiert werden. Auch der aus dem Englischen entlehnte Alternativbegriff «subsaharisches Afrika» unterstellt eine Homogenität, die geschichtslos daherkommt und kulturelle, religiöse, ökonomische sowie politische Pluralität negiert.
Als Saharastaaten gelten Ägypten, Libyen, Marokko/Westsahara, Algerien und Tunesien sowie Mali, Niger, Tschad, Sudan, Mauretanien. Die fünf zuletzt genannten Staaten werden aber der Schublade «Schwarzafrika» bzw. «subsaharisches Afrika» zugeordnet. Offenbar geht es also gar nicht um die Sahara. Zwar würde der Rassismus die People of Color in Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Libyen und der
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