Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
sich um eine kolonialistische Erfindung.
Die Kolonisierten sind als «Quintessenz des Bösen» (Frantz Fanon) hingestellt worden, um ihnen das Mensch-Sein abzusprechen. Dies erfährt im Topos der «Menschenfresserei»
einen
Höhepunkt. Wesen, die sich an Menschenfleisch laben, können selbst keine Menschen sein, was wiederum bedeutet, dass die diesen Wesen angetane Gewalt nicht als Verbrechen an Menschen oder der Menschlichkeit gewertet werden kann.
56. «Indianer» – oder: Wann ist ein Irrtum menschlich? Christopher Columbus und die Menschen, denen er 1492 auf den karibischen Inseln begegnete, sprachen verschieden. Doch weder glaubten diese, Inder_innen zu sein, noch verkannte Columbus, dass er nicht in Indien angekommen war. Was Columbus der Nachwelt als monologisch-begriffliche Hinterlassenschaft stiftete, ist ein auf geografischer Unkenntnis basierender Irrtum. Obwohl es gemeinhin als wenig überzeugend gilt, auf Irrtümern zu beharren oder gar stolz darauf zu sein, wird gerade
dieser
Irrtum als nicht sonderlich gravierend empfunden.
So kann der
Duden. Deutsches Universalwörterbuch
unter dem Schlagwort «Indianer» behaupten, ein so bezeichneter Mensch sei ein «Angehöriger der in zahlreiche Stämme verzweigten Ureinwohner Amerikas mit glänzend schwarzem Haar u. rötlich brauner bis gelblicher Hautfarbe». Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Beschreibung helfen würde, einen jener Menschen, der unter diesen Sammelbegriff fallen soll, in einer New Yorker U-Bahn zu identifizieren. Diesen Wiedererkennungseffekt garantieren wohl nur «I.-Bücher» von
Winnetou
bis
Yakari
. Hier jedenfalls weiß ich, was ein «I.» ist. Er geht oben ohne, ist meist bewaffnet, trägt eine Feder im Haar und Kriegsbemalung im Gesicht, heißt
Adlerauge
oder
Tanzender Bär
und ist meist ein «Häuptling» oder dessen Sohn.
«Häuptling» ist auch so eine neologistische Sammeltasche für ganz verschiedene Herrscher_innen in von Europa kolonisierten Räumen. Dabei wird nicht nur verallgemeinert, sondern ihre Herrschaftsform auch als unterentwickelt abgetan. Denn im Suffix «-ling» steckt zumeist die Absicht, das Bezeichnete zu verkleinern (Täufling, Jüngling, Abkömmling), als nicht fertig anzusehen (wie etwa im Fall von Prüfling zu Prüfer oder Lehrling zu Lehrer), abzuwerten (Schädling, Schönling, Wüstling) oder alles gleichermaßen (Günstling, Emporkömmling, Schreiberling). So gesehen ist ein «Häuptling» eben kein richtiges Haupt, nur ein Möchte-gern-Haupt, jedenfalls als Herrscher nicht ernst zu nehmen, weniger bedeutsam und keineswegs gleichberechtigt mit westlichen Machthaber_innen. Wenn westliche Machthaber_innen gelegentlich mit kritischem Impetus polemisch als «Häuptlinge» bezeichnet werden, so ist dabei immer satirisch verpackte Kritik am Werk.
Gibt es Alternativen, soll ich meinen Kindern die Klassiker vorenthalten? Das ist schwierig. Einfacher wäre es, die Verlage würden – dort, wo das möglich ist – neu edieren. Bei meinen Kindern habe ich schließlich irgendwann mal gesagt: «I.» gibt es ebenso wenig wie den Weihnachtsmann. Sie haben es überlebt. An einem Elternabend wollte ich andere Eltern davon überzeugen, dass Kinder diese «I.-Bücher» nicht benötigen. Nur wenige verstanden, was ich meinte, viele versicherten, das seien so tolle Menschen. Sie fänden es wichtig, ihre Kinder an der Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit der «I.» teilhaben zu lassen. Ich fragte, welcher «I.»? Jener, dessen Familie im Terror (aus)starb, der damit begründet wurde, dass diese Menschen der Kultur zu fern (und der Natur so nah) waren? Oder jene, die in Montreal leben – oder in New York, Rio de Janeiro oder auf Feuerland? Oder doch nur jene, die ein Fantasieprodukt der exotisierenden Seite des Rassismus sind?
Ich glaube nicht, dass die bisherigen «I.» künftig von Kindern vermisst würden. Aber irren ist ja menschlich.
57. Was essen die «Eskimos»? Das hängt davon ab, wo sie leben. Aber wer sind überhaupt «Eskimos»?
Viele verschiedene Kulturen im territorialen Speckgürtel um Russlandund Alaska sowie Grönland und Kanada werden mit diesem Begriff zusammengewürfelt. «E.» ist keine linguistisch oder kulturell irgendwie abgesicherte Eigenbezeichnung, sondern eine Fremdbezeichnung, deren Herleitung umstritten ist. Viele meinen, dass der Begriff über das Französische aus dem Abnaki oder Chippewa stammt, wo es wortwörtlich «Rohfleischfresser» meint. Andere bezweifeln das und
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