Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
Insel zum Sinnbild jener
terra nullius,
jener Fiktion von unbewohntem Raum, der neue Lebensräume zu bieten vermag. Hier stehen wir inmitten jener kolonialistischen Fiktion, die uns seit Daniel Defoes
Robinson Crusoe
bewusst oder unbewusst begleitet und prägt. Robinsonaden beflügeln seit dem 18. Jahrhundert die Imaginationswelt von Schriftsteller_innen und Filmemacher_innen, nicht zuletzt in jüngsten Verfilmungen dieses Klassikers. Auch in Anti-Robinsonaden wird das laboratorische Ambiente unbewohnter Inseln zum geeigneten Setting für Dystopien. So sind etwa auch in William Goldings Roman
Lord of the Flies
(1954) kolonialistische Fantasien nicht weit, wenn die zunehmende Entmenschlichung der Jungen dadurch körperlich markiert wird, dass sie ihre Kleidung gegen Nacktheit und Kriegsbemalung eintauschen und deswegen aus der Erzählperspektive heraus als «savages» bezeichnet werden.
Immer wenn wir einer Inselfantasie nachhängen oder in Film oder Literatur begegnen, können wir uns fragen, wie viel Robinson und kolonialistische Fantasie da gerade aus uns heraus- oder auf uns he runterschaut.
66. Was sah Leni Riefenstahl in den Nuba? Die deutsche Schauspielerin, Regisseurin, Fotografin und Autorin Helene Bertha Amalia «Leni» Riefenstahl (1902–2003) gehört zu den umstrittensten Künstler_innen des 20. Jahrhunderts. Schon als ganz junge Frau feierten viele ihre außergewöhnlichen Talente. Über ihren Tod hinaus gilt sie vielen weltweit auch heute noch als künstlerisch einzigartig.
Sie war schon vor 1933 eine Anhängerin der NS-Ideologie und eine der innigen Bewunder_innen Hitlers. Dieser wiederum kannte Riefenstahls Arbeiten und verehrte sie. Daraus entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die bis zum Untergang des NS anhielt. Selbst nach 1945 bekannte Riefenstahl, dass sie Hitler «als Mensch» verehre. Ihre Propagandafilme über die NSDAP-Reichsparteitage, die Wehrmacht oder die Olympischen Spiele von 1936 zogen ein Millionenpublikum in ihren Bann und trugen erheblich dazu bei, die NS-Ideologie, den NS-Rassismus und den NS-Körperwahn erfolgreich zu propagieren. Sie filmte zudem den Polenfeldzug und war Zeugin eines der ersten Massaker an Jüd_innen im September 1939.
Das alles lastete nach 1945 auf ihr, mehrere Gerichtsprozesse sind gegen sie geführt worden. Offiziell galt sie nur als «Mitläuferin». Das ist eine historisch und politisch höchst umstrittene Einschätzung, denn kaum jemand anderes außer Hitler selbst hat so wirkungsvoll die NS-Ideologie und den Rassismus propagiert wie Riefenstahl. Weniger in der Öffentlichkeit umstritten ist allerdings ihr Spätwerk.
Besonders berühmt ist ihr fotografisches Werk über einige Nuba, eine Sammelbezeichnung für annähernd 100 Gesellschaften im Sudan, die etwa 40 verschiedene Sprachen sprechen. Riefenstahl fuhr ab 1962 immer wieder dorthin, um sie zu fotografieren. Das hatte vor ihr bereits der berühmte britische Fotograf George Rodger (1908–1995) getan. Wie ihr Kollege suchte Riefenstahl das «unberührte» Afrika und Menschen, die angeblich in ihrer «ursprünglichen Natürlichkeit» lebten. Herausgekommen ist eine Fotoserie, die Menschen in ihrer «Geschichtslosigkeit» als «Naturvolk» im Gegensatz zu den europäischen «Kulturvölkern» präsentiert. Riefenstahl bestätigte später, dass sie die «natürliche Primitivität» auch dadurch inszenierte, dass sie Zeugnisse der Moderne bewusst nicht fotografierte oder in der Unschärfe großer Blenden langer Teleobjektive verschwinden ließ. Die Menschen werden zudem sexistisch und zum Teil pornographisch abgebildet, in unterwürfigen oder verführerischen Posen, womit Riefenstahl die rassistischen Kolonialfantasienreproduziert. Da viele Menschen an die Objektivität der Foto-Objektive glauben, üben diese Bilder bis heute eine besonders rassifizierende Suggestionskraft aus. Damit steht das Werk Riefenstahls für die Kontinuität kolonialrassistischer und nationalsozialistischer Blicke, die Wirkmacht der Kunst in diesen Regimen und dafür, wie schwer sich Deutschland tut, rassistische Blicke zu missbilligen. Auch deswegen ist Leni Riefenstahl nur die berühmte Spitze eines Eisberges. Der (nicht nur) von ihr kultivierte begehrliche Blick, der Afrika und seine Menschen erotisch exotifiziert und dabei
weiße
Überlegenheitsmythen fortschreibt, lässt sich in unzähligen Fotos wiederfinden.
67. War die DDR antirassistisch? Ihrem Anspruch nach schon. Und viele Apologet_innen der SED-Diktatur
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