Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
ursprüngliche Einwohner_innen kamen durch Kriege, gezielte Vernichtungsfeldzüge, von Weißen erzeugten Hunger und durch von Weißen eingeschleppte Seuchen und Krankheiten ums Leben. Zugleich wuchs die
weiße
Bevölkerung stetig von wenigen Tausend auf viele Millionen an.
Ob die
weißen
Siedler die ursprüngliche Bevölkerung angriffen, um sie zu vertreiben, oder ob sie von ihr angegriffen wurden – im Kern geht es darum, dass sich die First Nations, also die, die dort bereits vor der «Ankunft» der Europäer_innen lebten, gegen Eindringlinge zur Wehr setzten, die ihnen ihr Land nahmen. Der Mythos vom kriegerischen «I.» wurzelt allein in dem Umstand, dass die
weiße
Besiedlungsgeschichte der Amerikas von Beginn an auf Krieg aufbaute. Deswegen ist es irreführend, von «I. kriegen» zu sprechen, so als seien diese die Aggressor_innen gewesen – die eigentlichen Kriegstreiber_innen bleiben hier unbenannt.
Winnetous und Old Shatterhands Freundschaft symbolisiert eine Sehnsucht nach gemeinsamem Frieden, aber sie steht auch zugleich für eine Form der Erzählung, die die eigentliche Geschichte verdeckt, relativiert und verharmlost. Die systematisch angelegten Massenverbrechen bleiben unsichtbar. Winnetou versöhnt uns, ohne dass erkennbar wird, warum und womit eigentlich.
76. Wer widerstand der Sklaverei? Widerstand gegen die Sklaverei ist so alt wie diese selbst. Kein Mensch wurde freiwillig zum Sklaven oder zur Sklavin. Widerspruch mündete in Widerstand und lebte in und durch Sprache, Lieder und Erzählungen, Selbstmord und Attentate, Flucht und Rebellion. Die meisten bezahlten ihren Mut mit Folter und Tod. Nur selten wurden ihre Geschichten überliefert, nur wenige Namen sind überhaupt bekannt. Filme und Bücher, auch einige Autobiographien, legen Zeugnis von diesem Widerstand ab. Dazu gehören die Filme
Middle Passage
(1990),
Sankofa
(1993) oder
Amistad
(1997), ebenso Romane wie Ayi Kwei Armahs
Two Thousand Seasons
(1973), Alex Hayleys
Roots
(1976), Toni Morrisons
Beloved
(1987), Fred d’Aguiars
The Longest Memory
(1994) oder Bernadine Evaristos
Blonde Roots
(2008).
Zu den frühesten überlieferten literarischen Texten über den Widerstand gegen Sklaverei gehört Shakespeares
The Tempest
(1611), eine Geschichte um Prospero, der von seinem machtgierigen Bruder gestürzt wird und auf einer Insel strandet. Es gibt Forscher_innen, die wie Harold Bloom der Meinung sind, dass es in dieser Geschichte um Prospero gar keinen Bezug zum Kolonialismus gäbe. Dagegen haben andere, die Prosperos Insel als Metapher für den kolonialen Raum lesen, Shakespeares
The Tempest
vorgeworfen, dass er kolonialistische Fantasien auf die Bühne bringe. Das mag stimmen, jedoch geht Shakespeare mit Rhetoriken des Kolonialismus und Rassismus gerade nicht konform. Ganz im Gegenteil: Er inszeniert den Rassismus kolonialistischer Blicke seiner Zeit, um zu widersprechen.
Caliban, den Prospero seinen Sklaven nennt, wird auf der Bühne wie im Film manchmal als Schwarzer und fast immer als monströse Schöpfung mit tierähnlichen Zügen dargestellt. Tatsächlich wird er im Stück wiederholt als Teufel oder Monster, Bastard oder gescheckter Welpe, Schildkröte oder Fisch bezeichnet. Doch wie kann er gleichzeitig so vieles sein? Was haben all diese Attribute gemeinsam? Treffen sie sich im Kern nicht darin, dass sie zum Vokabular des Rassismus gehören? Letztlich verraten uns diese Worte ja nicht, wer Caliban ist, sondern was in ihm gesehen wurde. Dieser
weiße
Blick geht konform mit der Reiseliteratur in Shakespeares Zeit, wird aber in
The Tempest
vorgeführt. So lässt Shakespeare etwa eine seiner Figuren eine Fata Morgana erleben und, begeistert von dieser Illusion, zugleich beteuern, dass Reisende niemals lügen. Ein anderer hältCaliban erst für einen Fisch und dann für einen «Indianer» und beschließt letztlich, ihn auf einem europäischen Markt auszustellen.
Wenn alles, was die
weißen
Charaktere in Caliban sehen, einem kolonialistischen Diskurs entwächst, wie lassen sich dann Prosperos Äußerungen, Caliban sei ein «Bastard» und ein «gesprenkelter Welpe», einordnen? Ist nicht zu vermuten, dass Caliban ein Kind von einem
weißen
und einem Schwarzen Elternteil ist? Schließlich wissen wir, dass Prospero Calibans Mutter Sycorax als blauäugige Hexe bezeichnet, während sein Vater Algerier ist.
Caliban ist also weder Monster noch Tier, sondern ein Mensch. Dessen versichert uns der Text, als Miranda, die mit ihrem Vater
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