Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
angesichts eines solchen Schicksals! Tragik weht mich an!«
»Tragödie!« schrie die eine Welle.
»Klassische Tragödie!« die andere.
Sie fingen beide an, bitterlich zu weinen.
Von einer Sekunde auf die andere beruhigten sie sich wieder, steckten ihre Wellenkämme zusammen und beratschlagten sich:
»Ich habe überhaupt keine Lust, ihn zu verhöhnen.«
»Geht mir genauso. Ich bin einfach zu betroffen zum Verhöhnen. Es ist seltsam, aber ... mir ... mir ist irgendwie so nach helfen zumute.«
Die andere Welle schüttelte sich ein wenig. »Ja! Mir auch! Eigenartiges Gefühl, nicht wahr?«
»Ja ... so fremd! Aber irgendwie ... auch interessant! Wild! Neu! Nie dagewesen!«
»Wild! Neu! Nie dagewesen!« wiederholte die andere Welle begeistert.
»Nun ja - aber wie kann man ihm nur helfend Was kann man da nur machen?«
Grübelnd zogen die Wellen ihre Kreise um mein Floß.
»Ich hab's!« rief die eine Welle. »Wir bringen ihm das Sprechen bei!«
»Meinst du, das geht?« zweifelte die andere. »Ich finde, er sieht ein bißchen minderbemittelt aus.«
Eine der Wellen schwappte direkt zu mir hin. »Sag mal >A befahl sie, sah mir tief in die Augen und streckte mir eine Zunge aus Meerwasser entgegen.
»A!« sagte ich.
»Siehst du!« rief sie. »Wer A sagen kann, kann in Null Komma nichts auch Binomialkoeffizient sagen!«
In den folgenden Wochen umkreisten die Tratschwellen unermüdlich mein Floß und brachten mir das Sprechen bei. Zunächst lernte ich so einfache Wörter wie »Welle« oder »Woge«, dann schon schwierigere wie »Flutwelle« oder »Wellengang«. Ich lernte große und kleine Wörter, Tätigkeitswörter, Wiewörter, Umstandswörter, Nebenwörter, Bindewörter, Hauptwörter und Widerworte; schöne Wörter und auch solche, die man gar nicht erst sagen sollte. Ich lernte, wie man diese Wörter buchstabiert, artikuliert, dekliniert und konjugiert, substantiviert, genitiviert, akkusativiert und dativiert. Dann kamen wir zu den Sätzen. Hauptsätze, Nebensätze, Zwischensätze, Über- und Untersätze, Frage- und Halbsätze, Satzfetzen, Satzteile und ganze Satzungen.
Damit das klar ist: Die Tratschwellen brachten mir nicht das Schreiben bei, sondern nur das Sprechen. Das geschriebene Wort hat auf hoher See keine Bedeutung. Das Papier wird zu schnell naß.
Die Tratschwellen gaben sich nicht damit zufrieden, mir einfach das Sprechen beizubringen, sie wollten, daß ich es in allen Formen perfekt beherrschte.
Sie lehrten mich murmeln, quasseln und labern, tuscheln und grölen, plaudern, quatschen, parlieren, intrigieren und natürlich tratschen. Die Tratschwellen brachten mir bei, wie man eine Rede hält, wie man Selbstgespräche führt, und weihten mich in die Geheimnisse der Überredungskunst ein: wie man andere in Grund und Boden quatscht, aber auch, wie man sich selber um Kopf und Kragen quasselt. Ich lernte reden unter extrem erschwerten Bedingungen, auf einem Bein stehend, im Handstand oder mit einer Kokosnuß im Mund, während sie mich mit Wasser bespritzten.
Von der Gehässigkeit der Tratschwellen war schon längst nichts mehr zu spüren. Wahrscheinlich hatten sie noch nie eine solch verantwortungsvolle und interessante Tätigkeit gehabt. Sie gingen ganz darin auf, und ich muß sagen, daß sie wirklich gute Lehrmeister waren. Vom Quasseln verstanden sie was.
Ich wurde selbst ein Meister des gesprochenen Worts. Nach fünf Wochen war ich soweit, daß mir die Wellen nichts mehr beibringen konnten, ja, ich war ihnen fast ein bißchen über. Ich konnte jedes Wort sprechen, das es gab, in jeder gewünschten Lautstärke, vorwärts und rückwärts. »Binomialkoeffizient« war noch eins von den einfachen. Ich konnte eine Rede schwingen, einen Toast ausbringen, einen Schwur schwören (und wieder brechen), einen Fluch ausstoßen, einen Monolog deklamieren, einen Vers schmieden, ein Kompliment schleimen, Stuß reden und Unverständliches lallen.
Ich konnte frisch von der Leber reden, mich entrüsten, über jemanden herziehen, mir das Maul zerreißen, andere schlechtmachen, eine Tirade ablassen, referieren, eine Predigt halten und natürlich ab jetzt auch mein Seemannsgarn spinnen.
Nachdem ich das Sprechen gelernt hatte, konnte ich mich endlich unterhalten, natürlich zunächst nur mit den Tratschwellen. Allzu viel zu vermitteln hatte ich aufgrund meiner mangelnden Lebenserfahrung nicht. Dafür hatten die Wellen um so mehr zu erzählen. Seit Jahrhunderten, so behaupteten sie jedenfalls, durchkreuzten sie
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