Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
die Ozeane, dabei bekommt man natürlich einiges zu sehen. Sie berichteten von gewaltigen Hurrikanen, die Löcher ins Meer wirbelten, von riesigen Seeschlangen, die miteinander kämpften und sich mit flüssigem Feuer bespien, von roten durchsichtigen Walen, die Schiffe verschluckten, von Oktopussen, deren Tentakel kilometerlang waren und ganze Inseln umarmen konnten, von Wasserkobolden, die auf den Wellenkämmen tanzten und fliegende Fische mit bloßen Händen fingen, von brennenden Meteoren, die das Meer zum Kochen brachten, von untergehenden und von auftauchenden Kontinenten, von Unterwasservulkanen, Geisterschiffen, Schaumhexen, Meergöttern, Wellenzwergen und Seebeben. Am liebsten erzählten sie aber hinterrücks Schlechtes übereinander. Jedesmal, wenn eine der Wellen sich etwas weiter vom Floß entfernte, schnatterte die andere drauflos, von welch zweifelhaftem Charakter die andere Welle sei und daß man ihr kein Wort glauben könne, und so weiter. Das Schlimme daran war, daß ich die beiden nicht unterscheiden konnte. Sie waren nämlich Zwillings wellen. In diesem Fall stimmte ausnahmsweise das alte Vorurteil, eine Welle sähe wie die andere aus.
Ich hatte mich längst an die beiden gewöhnt. Wenn man jung ist, schließt man schnell Freundschaft und glaubt, das bliebe immer so. Aber es kam der Tag, an dem sich etwas im unbekümmerten Verhalten der Wellen änderte. Seit mehreren Stunden hatten die beiden das Floß umkreist, ohne ein einziges Wort zu sagen. Das war außergewöhnlich. Ich überlegte, ob ich irgend etwas falsch gemacht hatte. Die Wellen schwappten schließlich zum Floß und fingen an herumzudrucksen.
»Wir müssen dann mal ...«, sagte die eine.
»Das Gesetz des Ozeans und so weiter«, schniefte die andere. Dann fingen beide an zu flennen.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatten, erklärten sie mir die Situation: Eine starke Strömung beunruhigte schon seit Tagen das Meer, und die Tratschwellen wußten, daß sie dieser Strömung folgen mußten. Wenn Wellen zu lange an einer Stelle bleiben, verdunsten sie. Deswegen sind sie dazu verurteilt, ruhelos die Ozeane zu durchkreuzen.
»Vielen Dank für alles!« sagte ich, denn ich konnte ja jetzt sprechen.
»Ach, das war doch gar nichts!« sagte die eine Welle, und ich konnte hören, daß sie mit den Tränen kämpfte. »Zum ersten Mal weiß ich nicht, was ich sagen soll!«
»Wir haben noch was für dich«, sagte die andere Welle. »Einen Namen!«
»Genau«, sagte die eine Welle, »wir nennen dich Blaubär.« Das zeigte, daß es mit der Phantasie der Tratschwellen nicht sehr weit her war, aber immerhin. Einen Namen hatte ich bisher noch nicht gehabt.
Beide gaben mir eine feuchte Umarmung. Auch mir war nach Heulen zumute. Dann schwappten sie schluchzend davon.
Die Sonne ging langsam unter, und vor ihrem versinkenden Rund sah ich ihre Silhouetten Richtung Horizont entschwinden. Aber schon nach wenigen Metern rissen sie sich wieder zusammen und schnatterten los:
»Na, also ich sage dir ...«
»Du hast mir gar nichts zu sagen!«
»Das hast du nicht umsonst gesagt!« Und so tratschten sie weiter; noch Stunden später, als sie längst außer Sicht waren, konnte ich von ganz weit weg ihr Geschwafel hören.
Langsam gingen meine Kokosnußvorräte zur Neige, und durch den anstrengenden Unterricht waren meine Flüssigkeitsreserven fast vollständig aufgebraucht. Zudem brannte schon seit geraumer Zeit eine gnadenlose Sonne auf meinen ungeschützten Kopf, denn ich trieb in immer südlichere Gewässer.
Nach drei Tagen war mein Gehirn so ausgedörrt, daß ich nur noch dasaß und dumpf auf die Wasseroberfläche starrte. Wenn man Meerwasser lange genug anstarrt, kann man irgendwann die seltsamsten Dinge in seinem Schaum entdecken. Tiere, Drachen, ganze Armeen von Ungeheuern, die sich gegenseitig bekämpfen, tanzende Seegeister, springende Meerjungfrauen und seltsame graue Schatten mit Hörnern und Schwänzen. Bald hatte ich das Gefühl, auf den Grund des Meeres blicken zu können.
Ich sah durchsichtige Paläste, die unter mir schwebten wie U-Boote aus Glas. Ich sah einen Kraken mit eintausend Armen. Ein Piratenschiff, vollbesetzt mit klappernden Gerippen, die schaurige Lieder sangen. Und dann sah ich das Gräßlichste von allem: eine riesige Fratze, zehnmal größer als mein Floß, mit nur einem einzigen Auge, so groß wie ein Haus, das wild in seiner Höhle rollte, bis nur noch das Weiße von ihm zu sehen war. Darunter ein Maul, groß genug, um jedes
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