Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
der Lage, nach hinten zu sehen, wodurch er nicht gezielt mit seinem Schwanz schlagen konnte, aber er glich das durch die Häufigkeit der Schläge aus.
Früher oder später würde er schon treffen. Mit seinem Hornstachelschwanz konnte er seine Beute aufspießen und bequem nach vorne ins Maul reichen.
Wuuusch! Zwanzig Meter.
Wuuusch! Zwanzig Meter.
»Seht ihr die Löcher in der Decket« schrie der Troll atemlos während unseres nächsten Sprints. »Zwischen den Lampen«? Da müssen wir hoch. Unsere einzige Chance. Kähähä!«
Etwa alle fünfzig Meter war ein rundes Kanalisationsloch in der Tunneldecke. Bis dort oben waren es allerdings mindestens vier Meter.
»Wir müssen uns aufeinanderstellen. Wer als erster oben ist, zieht die anderen nach«, hechelte der Troll.
Eine völlig schwachsinnige Idee. Wir hatten für so eine Aktion nur ein paar Sekunden Zeit, dann, wenn der Drache zwischen seinen Schenkelstößen pausierte, um seinen Schwanz durch den Tunnel peitschen zu lassen. »Jetzt!« rief der Troll. Der Drache hatte angehalten.
Es hatte keinen Zweck mehr zu diskutieren. Chemluth war schon mit einem Satz auf meine Schultern gesprungen. Der Schwanz zischte rechts an uns vorbei, kaum einen Meter entfernt. Es gab einen lauten Knall, als er ins Leere peitschte.
Der Troll stieg an mir hoch. Er stellte sich fürchterlich ungeschickt an, riß an meinen Haaren, trat mir mit seinen schwieligen Füßen ins Gesicht, aber er schaffte es über Chemluths Schultern hinauf zum Kanalloch.
Der Drache bereitete sich auf den nächsten Schlag vor. Er rollte den Schwanz ein wie eine Lakritzschnecke.
»Tempo! Nun macht schon!« rief ich.
Der Stollentroll zog Chemluth nach oben. Ächzend kletterte mein Freund durch die Öffnung.
Der Schwanz durchschnitt die feuchte Tunnelluft wie ein Fallbeil. Diesmal ging er links an mir vorbei. Wenn der Drache ein System hatte, würde er beim nächsten Mal die Mitte treffen.
Da, wo ich jetzt stand.
Er rollte seinen Schwanz langsam wieder ein.
»Versucht ihr das Ding mit der Decke?« fauchte der Drache.
»Hinter meinem Rücken? Das haben schon ganz andere versucht!«
Ich hatte keine Ahnung, daß Kanaldrachen sprechen konnten.
Kanaldrache, der [Forts.]: Es wird von manchen Augenzeugen behauptet, daß Kanaldrachen in der Lage sind, sich sprachlich zu artikulieren. Aus biologischer Sicht ist das eigentlich unmöglich, weil Kanaldrachen zur Familie der Großfaucher zählen, also Echsenwesen mit kurzem feuerfesten Stimmband sind, das eigentlich keine subtile Artikulierung zuläßt. Es wird aber gemutmaßt, daß durch die seltsamen elektrischen Verhältnisse unter Atlantis, die unter Umständen mit den Umtrieben der »Unsichtbaren Leute« zu tun haben, gewisse Mutationen möglich geworden sind.
Chemluth und der Troll sahen durch das Loch zu mir herab. »Irgendwas haben wir verkehrt gemacht«, sagte der Troll. »Wir zwei sind in Sicherheit, aber du steckst immer noch in größten Schwierigkeiten, kähä!«
»Ihr wundert euch vielleicht, daß ich sprechen kann, aber ich wundere mich selber am meisten darüber«, grunzte der Schuppige. »Jahrhundertelang hab' ich hier unten gelegen und kein Wort gesagt, aber dann - zack - traf mich dieser verdammte blaue Blitz mitten in den Kopf! Und seitdem ist alles ganz anders.«
»Du mußt weiterlaufen, ga!« flüsterte Chemluth. »Wir erwarten dich am nächsten Loch. Keine Angst, wir holen dich da raus!«
»Glaubt ja nicht, daß es dadurch für mich einfacher geworden ist«, stöhnte der Drache und stieß eine Qualmwolke aus. »Früher konnte ich nicht sprechen, aber auch nicht denken, und glaubt mir, das ist ein viel angenehmerer Zustand, als wenn man über alles nachgrübeln muß.«
Schwefelgeruch machte sich im Tunnel breit. Chemluth und der Troll waren verschwunden, und ich stand immer noch wie festgeleimt da und hörte dem Drachen zu. Er zeigte Ansätze von Vernunft. Vielleicht konnte man mit ihm reden. »Zum Beispiel die Sache mit dem Sterben. Ich hatte vorher einfach keine Ahnung davon, daß ich irgendwann mal das Zeitliche segnen muß. Was waren das für heitere, unbeschwerte Tage! Ich meine, okay, ich bin ein Drache und habe damit eine durchschnittliche Lebenserwartung von zweitausend Jahren. Eintausend hab ich erst runter, es ist also nicht so schlimm wie bei, sagen wir mal: einer Eintagsfliege, aber trotzdem ... Früher habe ich gedacht, ich wäre unsterblich, und verdammt noch mal - das ist ein ganz anderes Lebensgefühl!« Das Ungeheuer
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