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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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Richterskala wieder in Gang gebracht wurde. Den Vibrationsgürtel bewahrte er mit anderen gescheiterten Erfindungen in einer Kammer der Nachtschule auf, die mit einem Luftschloß (eine Erfindung Nachtigallers aus konzentriertem Sauerstoff) verriegelt war und die Aufschrift trug:
    »Kammer der unausgereiften Patente«
    Darin befanden sich unter anderem das Treppenfahrrad mit viereckigen Reifen, ein Blitzstaubsauger, die sogenannte Treibsandhose und natürlich die Aquaschuhe. Nachtigaller hatte zu jedem dieser Gegenstände eine interessante Geschichte parat. In der mit der Treibsandhose kam Deus X. Machina vor. Mac hatte Nachtigaller vor Jahren aus einem Treibsandsumpf gerettet, in den der Professor gewatet war, um die Tauglichkeit seiner Treibsandhose zu überprü- fen. Sie basierte auf dem umgekehrten Prinzip des Vibrationsgürtels und hatte ähnliche Macken. Sandkrümel gerieten zwischen die Pole der Zündkerze des primitiven Antriebsmotors, der dadurch ausging und Professor Nachtigaller im Treibsand versinken ließ. Hätte Mac ihn damals nicht gerettet, gäbe es jetzt keine Nachtschule. Er hatte natürlich wie immer bis zur letzten Sekunde gewartet.

    Ich kann wirklich nicht behaupten, daß ich gerne zur Schule ging, aber der Unterricht von Professor Nachtigaller besaß eine einzigartige Qualität: Hatte er einmal begonnen, vergaß man alles rund um die Nachtschule. War Nachtigaller endlich in den Klassenraum gewackelt (er verspätete sich regelmäßig) und hatte seine fünf Doktorhüte (die er einerseits aus Eitelkeit, andererseits zur Wärmung seiner Außengehirne trug) abgelegt, begann er umgehend den Unterricht.
    In diesem Augenblick fiel auch seine Zittrigkeit und seine Hinfälligkeit von ihm ab, leichtfüßig wie eine Ballerina tänzelte er vor der Klasse auf und ab und präsentierte seinen Lehrstoff mit Gebärden, Mimik und einer Stimmakrobatik, die jedem Schauspieler, Tänzer oder Sänger zur Weltkarriere verholfen hätten. Er hatte die Begabung, jeden Lehrstoff, den er gerade präsentierte, körperlich darstellen zu können: Vor unseren staunenden Augen verwandelte er sich nur durch ein paar Grimassen und Verrenkungen in ein Zebra oder in eine Glockenblume, in einen Bergkristall oder eine Mikrobe, in ein Atom oder in den Satz des Pythagoras. Professor Nachtigaller hatte den Beruf der Lehrkraft in den Bereich der Kunst überführt. Und auch als Künstler war er - wie in allen anderen Disziplinen, die er beherrschte - ein Genie.
    Es gab keinen Unterricht nach herkömmlichen Maßstäben, keine einzelnen Fächer, statt dessen jeden Tag einen durchgehenden langen Vortrag von Nachtigaller, in dem er zwischen den Themen scheinbar beliebig hin und her sprang, mal über Windenergie, mal über Pudelzucht, mal über pflanzliche Rauschmittel schwadronierte und zwischendurch ab und zu eine Formel, ein Fremdwort oder eine Zeichnung an die Tafel krakelte. Wenn er zwischen den Themen hin und her wechselte, konnte man sehen, wie er von einem Gehirn zum anderen umschaltete - nämlich daran, daß er seinen kleinen Finger ins linke Ohr steckte und eine kurze Bewegung wie mit einem Schraubenzieher machte. Es gab dann ein leichtes Knacken, wie von einem Knochengelenk, das wieder einsprang. Manchmal verschaltete er sich dabei, und es gab ein Geräusch, das klang, als ob ein Brecheisen zwischen zwei Zahnrädern zermalmt wurde. Mir lief es dann immer kalt den Rücken runter, und Fredda standen die ohnehin struppigen Haare zu Berge. Qwert hingegen liebte das Geräusch, weil es ihn an einen populären Schlager aus der 2364. Dimension erinnerte.
    Allerdings waren diese abrupten Sprünge im Lehrstoff keineswegs willkürlich. Mir ging das viel später auf, es war, als läse man einen sehr umfangreichen, kompliziert verschachtelten Roman, dessen Handlungsfäden erst am Schluß zusammenlaufen, oder sähe jahrelang dabei zu, wie ein riesiges Deckengemälde entstünde. Denn Jahre waren es, die in der Nachtakademie vergingen, aber sie vergingen so schnell und ereignisreich, daß ich nicht mal dazu kam, sie zu zählen.
    Hatte ich bei Mac die Welt von oben kennengelernt, so erschloß sie sich mir jetzt von innen. Ich fing an zu begreifen, wie die Dinge zusammenhängen, von der Zellstruktur eines Pusteblumensamens bis hin zu einem explodierenden Stern im Pferdekopfnebel. Ich lernte alles über die Entstehungsgeschichte und Besiedelung Zamoniens, kannte die Namen aller Könige, Zaren, Fürsten, Sheriffs, Präsidenten, Kalifen, Päpste,

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