Die 13. Stunde
selbst auf den Revolver brachte.
Er nahm einen Lappen, wickelte ihn sich um die Hand und schloss den Kofferraum. Ob die Waffe gefunden wurde oder nicht, spielte keine Rolle: Wenn er eine Möglichkeit fand, Julia zu retten, gab es keinen Verdacht und keine Mordanklage; der Revolver war unerheblich. Und wenn er Julia nicht retten konnte, war es Nick ohnehin egal, was dann aus ihm wurde.
Nick wappnete sich für die nächsten fünf Minuten. Was er jetzt vorhatte, würde ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen. Er wollte sich Julias Leiche anschauen. Er fürchtete sich schrecklich vor dem, was er sehen würde.
Marcus saß auf den Verandastufen. Es brach ihm beinahe das Herz, als er zu Nicks Haus hinüberschaute und beobachtete, wie sein Freund auf der Zufahrt auf und ab ging, nachdem er mehr als eine halbe Stunde im Haus verbracht hatte. Offenbar strich Nick ziellos umher und schaute sich in der Umgebung um, als könnte er auf Julias Mörder treffen. Er machte den Eindruck, als jage er Gespenster.
In Nicks Augen hatte ein merkwürdiger Ausdruck gelegen, als Marcus sich neben ihn gesetzt hatte, nachdem die Polizei verständigt worden war. Obwohl seine Augen noch immer voller Trauer gewesen waren, hatte nicht mehr der Schmerz und die tiefe Verzweiflung darin gelegen, die Marcus gesehen hatte, als er den Freund neben Julias Leiche vorfand. Stattdessen hatte in Nicks Augen ein Ausdruck gestanden, der beinahe wie Hoffnung erschienen war, ja, wie ein Glücksgefühl, das ganz und gar nicht zu jemandem passte, dem die Frau, die er über alles liebte, auf brutale Weise geraubt worden war.
Für Marcus gab es nur eine Erklärung, weshalb der Schmerz aus Nicks Augen verschwunden war: Nick hatte sich in eine Wirklichkeit zurückgezogen, die gar nicht existierte.
Er hatte den Verstand verloren.
Nick trat durch die Seitentür der Garage und gelangte in den hinteren Flur. Weiß getünchtes Täfelholz bedeckte die Wände, während der Fußboden mit erdfarbenen spanischen Terrakottafliesen ausgelegt war. Im Flur gab es genügend Nischen für Schuhe sowie Haken für Mäntel und Schränke, die allesamt auf die Familie warteten, die er und Julia hatten gründen wollen. Sie hatten oft über die Größe dieser Familie diskutiert. Nick wollte zwei Jungen und ein Mädchen, während Julia ein Brady-Bunch-Gemisch von drei Jungen und drei Mädchen vorschwebte. Vor einem Jahr hatten sie einen Arzt aufgesucht und sich vergewissert, dass einer Schwangerschaft Julias nichts im Weg stand.
Als Nick um die Ecke bog, sah er Julias Schuh, der vom unteren Ende der Hintertreppe vorragte. Langsam ging er näher und ließ dabei den Blick an ihrem langen schlanken Bein hinauf zu dem schwarzen Rock gleiten, den sie am Morgen zur Arbeit angezogen hatte. Als er näher kam, schweifte sein Blick langsam ihren Körper hinauf über die weiße Bluse, die nun nicht mehr weiß war, sondern rot von Blut … o Gott, überall war Blut, so viel, als wäre sie in ein Blutgewitter geraten. Die Schultern waren karmesinrot; der Seidenstoff hatte sich mit dem Blut der Lache vollgesaugt, in der Julia lag. Nie hätte Nick geglaubt, dass der menschliche Körper so viel Blut enthielt.
Nicks Blick machte an Julias Schultern Halt, denn die unterste Treppenstufe verstellte ihm gnädig den Blick. Er vermied es sorgsam, in ihr zerstörtes Gesicht zu sehen. Er wusste, er könnte diesen Anblick nicht ertragen … nicht bei dem Menschen, der sein Leben erst vollständig gemacht hatte. Es war eine Schändung ihres Körpers und ihrer Seele. Nick wurde den Gedanken nicht los, dass man den Menschen selbst vernichtete, wenn man sein Gesicht zerstörte; dass man ihn seiner Identität beraubte, seines wahrhaftigen Ichs.
Und so hielt Nick den Kopf gesenkt und wandte den Blick von Julia ab, während er den Boden nach etwas absuchte, das ihm vielleicht einen Fingerzeig gab, wer diese entsetzliche Tat begangen hatte. Nick kämpfte darum, die Fassung zu wahren. Julias Handtasche lag geöffnet neben ihr auf den Fliesen; der Inhalt war über den Boden verstreut. Normalerweise hängte Julia die Tasche an einen Mantelhaken, sobald sie nach Hause kam. Sie verlegte öfters Dinge; deshalb hatte Nick ihr mit sanfter Überzeugung angewöhnt, die Handtasche jeden Tag an genau der gleichen Stelle zu lassen. Und das hatte sie nun schon ein Jahr lang getan, tagein und tagaus.
Nick zückte seinen Füllhalter und benutzte ihn, um die verstreut liegenden Sachen zu durchsuchen: Er fand Julias Eyeliner und
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